Band 22
Karl-Friedrich Kemper
RELIGIÖSE SPRACHE ZWISCHEN BAROCK UND AUFKLÄRUNG
Katholische und protestantische Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts in ihrem theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext

Rezension



 

Die Katholizismusforschung weiß über die Frömmigkeitsgeschichte zwischen Barock und Aufklärung, provokant formuliert, so gut wie nichts. Die katholische Religiösität zwischen Westfälischem Frieden und Aufklärungsepoche ist - vielleicht im Gegensatz zum Protestantismus - in ihrem intellektuellen Profil noch größtenteils unerforscht. Wie bemisst sich, so kann man sich zurecht fragen, eine katholische Religiösitat zwischen Dreißigjährigem Krieg und 18. Jahrhundert? Durch eine größtenteils ungebrochene tridentinisch colorierte Habitualität und Sachkultur oder durch Impulse aus dem gnadentheologisch inspirierten Jansenismus? Finden sich in diesem Zeitraum Hinweise auf ein sich durch die Aufklärung ausbildendes neues Religionsverständnis oder wird ein Traditionalismus erkennbar, der mit seiner Fokussierung auf die Bibel, apostolisches Zeitalter und Vater-Theologie anstelle von Ablassgewinn, Bittprozessionen und Hagelfeiern nur das Gewand des Neuen trägt?


Diesen frömmigkeits- und mentalitätsgeschichtlichen blinden Fleck exemplarisch zu vermessen, ist Anliegen des zu besprechenden Buches von Karl-Friedrich Kemper, der sich der religiösen Sprache von katholischen "und" protestantischen Erbauungsbüchern vor allem des 18. Jahrhunderts widmet. Dabei handelt es sich um ein wahrhaft wortgewaltiges Werk: Der mit Register 1044 (!) Seiten umfassende Band ist die gedruckte Version einer an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Augustin bei Bonn eingereichten theologischen Dissertation, die selbst eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat: Ursprünglich in den 1970er-Jahren als sprachgeschichtliche Arbeit begonnen, hat sich bei Wiederaufnahme der Forschung durch den Autor vor einigen Jahren der Interessensschwerpunkt von der Linguistik zur Frömmigkeitsgeschichte verschoben.


Erbauungsbücher (Gebet, Betrachtung, Litanei, geistliches Lied...), die das Quellenkorpus der Studie darstellen, machen für den Autor eine fälschlicherweise unterschätzte, da lange als "volksfromm" abgetane Textgattung aus. Doch in ihnen als den Massenmedien ihrer Zeit spiegele sich in besonderer Weise "der Paradigmenwechsel religiöser Vorstellungen und metaphorischer Konzepte, in denen sich diese ausdrucken", wie es im Klappentext heißt. Denn Anliegen von Erbauungsbüchern war es, dass Unverfügbare für den homo religiosus verfügbar zu machen. Sie regten zur Kommunikation mit Gott an, ja kanonisierten diese. In diesem Zusammenhang möchte Kemper auch den in der Forschung nicht unumstrittenen Begriff "Volksfrömmigkeit" verstanden wissen: Nicht als Aberglaube gemeiner Leute jenseits amtskirchlicher Vorgaben, sondern als die "recta intentio", die die Autoren der Erbauungsbücher ihren Leser als korrektes gläubiges Verhalten nahelegten.


In einem komparativen Zugang stellt die Studie katholische und protestantische Erbauungsbücher gegenüber (Martin von Cochem - Benjamin Schmolck; Georg Joachim Zollikofer - Thaddaus Anton Dereser und Johann Michael Sailer). Zeitliche Schwerpunkte werden also in der Mitte und am Ende des 18. Jahrhunderts gesetzt, was einen synchron-vergleichenden Blick auf die Konfessionen und zugleich eine diachrone Perspektive auf Barock und Aufklärung ermöglicht. Da jedoch die Behandlung Johann Michael Sailers als Theologe und Erbauungsschriftsteller, die Analyse von theologischem Gehalt und sprachlicher Konzeption seines "Lese- und Betbuches" (1783/85) sowie dessen öffentliche Rezeption fast die Hälfte aller Buchseiten ausmacht, ist klar, wo der Autor steht: Sein eigentlicher Fokus liegt bei der Aufklärung katholischer Provenienz. Dies vielleicht auch, weil der deutsche Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts bei genauer Betrachtung letztlich doch als sehr gut erforscht gelten kann.


Anliegen Kempers ist es nicht, kirchenhistorische Theoriebildungen für die frühe Neuzeit etwa mit Blick auf das Konfessionalisierungsparadigma zu reformulieren oder gar eine Vorgeschichte des katholischen Milieus bzw. seiner alternativen Varianten zu schreiben. Auch finden sich über die Studie verteilt und dann noch einmal gebündelt im Fazit viele Aspekte, die als solche der Forschung bereits bekannt sind: Pointiert formuliert könnte man die frömmigkeitsgeschichtlichen Antipoden für den katholischen Raum mit barocker "Muse und Verschwendung" (Peter Hersche) vs. "wahre Aufkärung durch Jesum Christum" (Christian Handschuh) umreißen, für den Protestantismus dann analog Pietismus vs. Aufklärung. Doch zwischen teils minutiöser Quellenpräsentation in Form einer korpuslinguistischen Analyse von Lexemen wie "Gott", "Jesus" und "Der betende Mensch" blitzen immer wieder neuartige Erkenntnisse auf. So ist die vielleicht interessanteste Quintessenz der Studie das für Kemper nach eigenen Worten selbst überraschende Ergebnis, "dass es katholische Erbauungsautoren gibt, deren Werke einen Übergangstypus zur Aufklärung hin darstellen. Man hat den Eindruck einer Reformbewegung, die sich noch an barocker Frömmigkeit orientiert, aber sich schon aus ihr heraus bewegt." (S. 938). In Sailers "Lese- und Betbuch" können darüber hinaus z. B. Elemente pietistischer und empfindsamer Sprache nicht abgestritten werden (S. 943). Sie sind sicherlich auch der Popularität geschuldet, der das Genre Erbauungsliteratur damals nachkommen musste: Religiöses Wissen musste zeitgenössisch ansprechend kommuniziert werden und entsprechende "Trends" aufnehmen. Sprachgeschichtlich fügt sich in diesen Rahmen ein Ablösungsprozess ein. Die oberdeutsche Schriftsprache verschwindet zugunsten des Meißnisch-Obersächsischen und begleitet die reformatio der Aufklärung katholischer Prägung.


Der Übergang des einen in den anderen religiösen Wissensbestand scheint also, so eine der Thesen Kempers, nicht abrupt, sondern peu a peu vor sich gegangen zu sein. Dies spricht für die Diskursivität von religiösem Wissen. Der Transformationsprozess religiöser Erbauungsliteratur zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung scheint somit auch das Adaptationspotenzial von Religion zu betonen als nur darauf angelegt zu sein, einen möglichst großen Einschnitt in der Frömmigkeit zu markieren. Zur Definition dieses Phänomens dürfte sich der von Thomas Kaufmann in die Diskussion eingespeiste Terminus "Konfessionskultur" als hilfreich erweisen. Der Begriff nimmt einerseits die distinkten Vorgaben der jeweiligen Konfession (etwa katholischerseits durch das Konzil von Trient) auf, betont aber gleichermaßen das Kontextuelle und Ephemere katholischer und protestantischer Lebensformen, worauf Günther Wassilowsky zurecht hingewiesen hat. Deren religiöse Sprache en detail analysiert zu haben, ist das Verdienst der Untersuchung Kempers.

Florian Bock, Tübingen







   
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