Allen Studierenden der Philosophie ist der Name von Martin Knutzen (= K.) als einer der Lehrer Kants bekannt. Aber von diesem zu seinen Lebzeiten gefeierten Denker wissen die meisten Studierenden und Dozenten heute nur noch, daß er das mathematischnaturwissenschaftliche Interesse des jungen Kant gefördert hatte. Dieser etablierten Würdigung liegt als (allerdings meistens nur dem Namen nach bekannte) Quelle die Monographie "Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der wolffischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants" zugrunde, die Benno Erdmann 1876 veröffentlichte. Auch in den häufiger gewordenen Studien der letzten Jahrzehnte wird K. nur im Rahmen von Untersuchungen über Aufklärung und Pietismus um die Zeit Christian Wolffs behandelt. In der von Ulrich Lehner initiierten Reihe von Studien zur frühneuzeitlichen Religionsgeschichte sowie von seltenen Quellentexten dieser Epoche kommt nun K. direkt mit seinem eigenen religionsphilosophischen Hauptwerk zu Wort, und zwar in einem Bd., für den der Herausgeber Sorge dafür getragen hat, daß der moderne Leser nicht die Hürde der deutschen Frakturschrift überwinden muß.
Das Buch stellt eines der ersten protestantischen theologischen Werke im deutschsprachigen Raum dar, die zur Gattung der Apologetik gehören. Damals, in der ersten Hälfte des 18. Jhdts., ging es nicht mehr um die einzigartige Autorität der Heiligen Schrift im Unterschied zur diesbezüglichen katholischen Position, sondern um die Abwehr des Deismus, insbesondere des englischen, etwa von Toland, Chubb und Tindal. Denn dieser wirkte, mit seiner Reduktion der Religion auf eine natürliche, der bloßen Vernunft zugängliche Religion, als der radikale Gegner des Christentums überhaupt als geoffenbarter, übernatürlicher Religion. Es galt deshalb, die Unhaltbarkeit eines Gegners zu beweisen, der das ganze kirchliche Christentum diesseits der inneren Spaltungen in seiner Existenz bedrohte.
Hieraus erklären sich zwei Grundauszeichnungen des "Beweises": erstens argumentiert K. ausgesprochen rational dahingehend, daß die Vernunft allein dem tatsächlichen geistesgeschichtlichen und existentiellen Zustand der Menschheit nicht gewachsen ist; zweitens verzichtet er angesichts der gemeinsamen Gefahr wohltuend darauf, die konfessionellen Unterschiede hervorzuheben und die entsprechenden Polemiken innerhalb der christlichen Religion aufzugreifen.
Der Beweis setzt den Status der Menschheit in einer Schuld wegen ihrer Übertretung des natürlichen Sittengesetzes voraus, also in einem Ungehorsam, dessen Größe entsprechend der Unendlichkeit des Schöpfers, gegen den die Menschen rebelliert haben, unendlich ist. Aufgrund seiner Heiligkeit kann Gott den Menschen nicht ungestraft lassen: wenn nicht in diesem Leben, so doch nach dem Tod. Dies aber schließt nicht aus, daß Gott den Menschen nicht begnadigen kann, falls es ein Begnadigungsmittel gibt, durch das der doppelte Zweck der göttlichen Strafe auf andere, ja sogar bessere Weise erreicht werden kann als durch die Vollstreckung der Strafe (2. Abteilung). Dieser Zweck ist einerseits die Offenbarung der Heiligkeit Gottes, andererseits die Förderung des Gehorsams gegen Gott, dessen Befehle auf die wahre Glückseligkeit des Menschen abzielen. Da nun die Vernunft nicht imstande ist, sich ein solches Begnadigungsmittel auszudenken, ist eine besondere göttliche Offenbarung nötig. Diese Offenbarung muß zwei Merkmale besitzen: Sie muß dem doppelten Zweck jeglicher göttlichen Strafe gerecht werden, und zugleich durch ein unwidersprechliches Wunder bestätigt werden. Die Untersuchung des ersten Merkmals gibt dem Autor die Möglichkeit, negativ die Insuffizienz und damit die Unbegründetheit aller übrigen Religionen außer dem Christentum zu zeigen: heidnische, mohammedanische und jüdische (3. Abteilung), und positiv den Hauptinhalt der christlichen Religion darzulegen, insbesondere die Geheimnisse der Dreifaltigkeit und des "Versöhnungstodes des göttlichen Mittlers", sowie die christliche Lehre von Buße und Glaube als Bestandteile der Begnadigungsordnung (4. Abteilung). Anschließend wird die innere Zweckmäßigkeit desselben Begnadigungsmittels im Hinblick sowohl auf die Verherrlichung Gottes als auch auf den Menschen untersucht, dessen gläubige Annahme der Begnadigungsordnung als vernunftgemäß gegen die Einwände der Deisten erwiesen wird (5. Abteilung).
Nachdem K. die Göttlichkeit der christlichen Offenbarung aus ihrem ersten, inneren Kennzeichen bewiesen hat, behandelt er das zweite, äußere Kennzeichen, nämlich die "Gewißheit der Geschichte der Auferstehung Jesu vom Tode, als eines großen Wunders, wodurch seine Lehre bestätigt worden ist". Der Verf. bespricht zunächst die Gründe, auf denen die Gewißheit einer Geschichte überhaupt beruht, um dann weitläufig auf die Gründe einzugehen, die zugunsten der Gewißheit der christlichen Offenbarung sprechen: das Zeugnis der Apostel, der ersten Christen, insbesondere der Märtyrer, die Zuverlässigkeit der Schriften des Neuen Testaments und der außerchristlichen historischen Dokumente.
Das rationale Rüstzeug, womit K. seine Apologie des Christentums ausgeführt hat, stammt hauptsächlich von Wolff, mit dessen Philosophie er sich in seinen Studienjahren unter anderen durch seinen Lehrer, den Theologieprofessor Franz Albert Schultz, Leiter des Collegium Fridericianum, vertraut gemacht hatte. Vor allem an den Stellen des "Beweises", wo er die Prinzipien und die Grundlehren seiner Schrift darlegt, verweist er auf die Werke Wolffs, insbesondere auf die "deutsche Metaphysik". Auf den Einfluß von Schultz geht auch die Anhänglichkeit K.s an den Pietismus zurück. Der "Beweis" kann in seiner Art als ein geglücktes Produkt der Kombination von Rationalismus Wolffischer Prägung und tief religiösem Pietismus angesehen werden. Eine Kombination, die sich am aufallendsten in der Verbindung von "mathematischer Lehrart" in der Argumentation, wie es im Titel des Buches heißt, und offenem, warmherzigem Eifer für die Heilswahrheit zeigt. Auf weite Strecken liest sich dieser "philosophische Beweis" wie eine geistliche Meditation.
Außer dem im Buchtitel genannten "Beweis" wird im vorliegenden Bd. die Apologie der christlichen Religion durch zwei andere, kürzere Schriften vermehrt, die schon K. 1742 anläßlich der dritten Auflage dieses Werkes beigefügt hatte. Die erste, "Vertheidigte Wahrheit der christlichen Religion gegen den Einwurf, daß die christliche Religion nicht allgemein sey", verfolgt das Ziel, das kurz vorher ins Deutsche übersetzte Werk Tindals "Christianity as old as the creation" zu widerlegen. Der englische Deist hatte den Absolutheitsanspruch des Christentums mit dem Argument bestritten, daß eine historische, in einer partikulären Kultur ergangene Offenbarung nicht allgemein verpflichtend sein kann. Auf zwei Ebenen setzt sich K. dem entgegen. Erstens: Die ursprüngliche Offenbarung an unsere Stammeltern sei tatsächlich für alle ihre Nachkommen gedacht gewesen, insofern sie dieselbe hätten weitergeben sollen. Daß sie nun dies durch den Sündenfall vereitelten, sei billigerweise kein Grund dafür, daß Gott durch eine unendliche Anzahl von Wundern seine Offenbarung für jeden einzelnen Menschen wiederhole. Denn durch die erneute Offenbarung an ein besonderes Volk und durch den Missionsbefehl Christi seien alle Menschen prinzipiell in der Lage, mit dem Evangelium bekannt zu werden. Zweitens: Auch diejenigen, die nicht zur Erkenntnis des Christentums gelangen, können gerettet werden, wenn sie gemäß dem unserer Vernunft zugänglichen Naturrecht und der natürlichen Religion leben. Außerdem vermögen die Deisten nicht zu beweisen, daß "diejenige, welche des Lichtes der Natur sich gebührend bedienet, nicht im Falle der Noth auch auf außerordentliche Art zur Erkenntnis des Evangeliums oder einer nähern Offenbarung" des Willens Gottes gebracht werden (§ 10). Damit vertritt K. eine dem Zweiten Vatikanischen Konzil an einigen herausragenden Stellen entsprechende "inklusivistische" Heilslehre (LG 16; GS 16).
Die letzte Schrift, "Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift und insbesondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt durch ein Göttli ches Sprechen" geht auf die Worte "Gott sprach, es werde - und es ward" ein, mit denen Gen 1 die "Abteilungen" der Schöpfungsgeschichte ausdrückt, um die Einfachheit und zugleich Erhabenheit der biblischen Sprache zu zeigen. Mittels einer Analyse des menschlichen Sprechens weist K. nach, daß in den Worten von Mose ein analoges Verständnis der Freiheit, Weisheit, Transzendenz und Schöpferkraft Gottes liegt, wie es nur die höchste philosophische Spekulation erreichen konnte und die christliche Dogmatik braucht. Mehr noch, er findet in denselben Worten "noch ein höheres Geheimnis verborgen" ( 6), nämlich das Hervorgehen des ewigen Sohnes Gottes aus dem Vater. Damit schließt sich K., ohne sie zu nennen, an die Augustinisch-Thomasische "analogia psychologica Trinitatis" an (vgl. S.th. I, q.27).
Der Herausgeber hat dem Buch eine ausführliche Einleitung mit hilfreichen Informationen historischer, biographischer und bibliographischer Art vorausgeschickt. Bei einem belesenen Autor wie K. machen sie eine stattliche Anzahl von Fußnoten aus. Zu ihnen kommen noch Erläuterungen philosophischen oder historischen Inhalts hinzu, gelegentlich auch der Hinweis auf weiterführende moderne Literatur. Damit bietet das Buch ein wertvolles, abgerundetes Instrument zur Erforschung einer der menschlichen und kulturellen Komponente der Zeit von der Reformation bis zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Gerade Autoren aus der zweiten Reihe können für die Kultur einer Epoche repräsentativer sein als die der ersten Reihe mit den Spitzen, aber auch nicht selten mit der Isoliertheit ihrer Genialität.
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