Ulrich L. Lehner, seit Sommer 2006 Professor für Kirchen- und Theologiegeschichte der Neuzeit an der Marquette University in Milwaukee (Wi) USA, hat sich die Mühe gemacht, das nur Spezialisten bekannte religionsphilosophische Hauptwerk Martin Knutzens: "Philosophischer Beweiß von der Wahrheit der Christlichen Religion [,] darinnen die Nothwendigkeit einer geoffenbarten Religion insgemein, und die Wahrheit oder Gewißheit der Christlichen insbesondere, aus ungezweiffelten Gründen der Vernunft nach Mathematischer Lehr-Art dargethan und behauptet wird" in der vierten Auflage von 1747 mit den beigebundenen Werken "Vertheidigte Wahrheit der christlichen Religion gegen den Einwurf: Daß die christliche Offenbarung nicht allgemein sei. Wobey besonders die Scheingründe des bekannten Deisten MATTHÄI TINDALS, welche in deßen Beweise, Daß das Christentum so alt, als die Welt sey, enthalten, erwogen und widerleget werden" von 1742 und "Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift" ebenfalls von 1742 einzuleiten, durchgängig zu kommentieren und neu gesetzt herauszugeben. Der Verzicht auf einen photomechanischen Nachdruck wird damit begründet, dass das Lesen der deutschen Frakturschrift internationalen Forschern sonst Schwierigkeiten bereiten könnte (VIII), eine vielleicht überschätzte Besorgnis. Ein Jahr später hat jedenfalls der Hildesheimer Olms-Verlag eine entsprechende Reprintausgabe vorgelegt, bei der es keine Ungenauigkeiten eines Neusatzes geben kann, die sonst wohl unvermeidlich sind (hier z. B. schon auf dem Titelblatt ungezweifelten statt ungezweiffelten, dann: Vorwort statt Vorrede oder das durchgängig fehlerhaft wiedergegebene [aber auch selbst nicht völlig korrekte] griechische Zitat nach Dionysius Longinus auf S. 231 usw.). Allerdings wurde die Originalpaginierung zwischen Schrägstrichen in den Text eingefügt, so dass insofern der Bezug zum Original deutlich wird, während die teilweise ausführlichen Anmerkungen des Hg.s (Zahlen in eckigen Klammern) unter die Anmerkungen des Originaltextes gestellt wurden, was allerdings bei einem bloßen Reprint nicht möglich gewesen wäre. Auf die Wiedergabe der dem Original vorangestellten Widmung wurde aber leider verzichtet, was hier wegen der darin zum Ausdruck gebrachten Absichten des Vf.s nachgeholt werden soll: "Dem Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friderich, Könige in Preußen, Marggrafen zu Brandenburg, des heiligen Römischen Reichs Erzcämmerern und Churfürsten, [folgen weitere Titel) &.&.&. Meinem allergnädigsten Könige und Herrn.
Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König, Allergnädigster König und Herr. Ew. Königl. Majestät preiswürdigste Bemühungen bey dem Antritt Dero, GOtt gebe, langen und höchstglückseligen Regierung sind dahin gerichtet, alles in Aufnahme zu bringen, was das wahre Wohl der Länder befördern kan, welche die göttliche Vorsehung Ew. Majestät Scepter unterworfen hat. Und da die Wißenschaften und Künste nicht nur eine Zierde des menschlichen Geschlechts sind, sondern auch demselben viele wahre und unentbehrliche Vortheile verschaffen; so suchen Ew. Majestät derselben höchsten Flor auf eine solche Art zu befördern, die auch die späteste Nachkommen bewundern werden. Mit wie vieler Zuversicht aber sollte sich denn nicht die christliche Religion Ew. Majestät Allerhöchsten Schutzes getrösten, da diese nicht nur einen besondern Einfluß in das Wohlseyn dieses gegenwärtigen Lebens hat, sondern uns auch den Weg zu einer ewigdaurenden Glückseligkeit zeiget.
Da nun gegenwärtige Schrift eine Handleitung der Weltweisheit und der natürlichen Wißenschaften zu der christlichen Religion in sich hält, und sowol die Vernunftmäßigkeit der Weisheitvollen Lehre JEsu Christi gegen den Unglauben unserer Zeiten zu erweisen, als auch zugleich die nutzbare Abhandelung der Philosophie von dem Vorwurf, als wenn sie der geoffenbarten göttlichen Religion entgegen wäre, zu retten bemühet ist; so lebe des allerunterthänigsten Vertrauens, es werde Ew. Königl. Majestät nicht allein nicht ungnädig deuten, daß gegenwärtige wenige Blätter Ew. Majestät geheiligen Person in allertieffster Devotion zu zueignen mich unterwinde, sondern auch dieses demüthigste Opfer meiner Ehrfurcht und diese geringe Frucht meines auf hiesiger, Ew. Majestät Scepter unterworfenen Academie öffentlich geführten Lehramtes nach Dero preiswürdigsten Leutseligkeit, allergnädigst anzusehen und denjenigen Dero Königlichen Hulde zu würdigen geruhen, der mit denen tausendfältigen Glückwünschungen, damit Ew. Majestät in diesem Königreiche und Dero sämtlichen Landen anjetzo aufgenommen werden, die seinigen öffentlich verbindet, Ew. Majestät alles Königliche Wohlergehen und eine höchstbeglückte Regierung, biß in die späteste fahre, von dem unsterblichen Beherrscher aller Regenten auf Erden mit dem allervollkommensten Eifer erbittet, auch sich äußerst bemühen wird, mit der allertieffsten Ehrfurcht, bis ins Grab zu seyn Ew. Königl. Majestät, Meines allergnädigsten Königes und Herrn allerunterthänigster Knecht, Martin Knutzen. Königsberg in Preussen, den 19 Julii 1740."
Martin Knutzen (1713-1751) war seit 1734 außerordentlicher Professor für Logik und Metaphysik an der Universität Königsberg und trat am 22. April 1735 eine Professur "der Weltweisheit" "auf der Academie zu Königsberg" an. Er stand als Denker allgemein in hohem Ansehen. Bei den Studenten, zu denen auch Immanuel Kant, Johann Georg Hamann und Friedrich Johann Bück gehörten, war er beliebt. Nach Borowskis Kant-Biographie war K. "der Lehrer, an den sich Kant vorzüglich anknüpfte" und dessen philosophischen und mathematischen Vorlesungen "er unausgesetzt" beiwohnte. K. "ermunterte ihn in Privatunterredungen - lieh ihm in der Folge besonders Newtons Werke und, da K. Geschmack daran fand, alles, was er aus seiner herrlichen, reichlich versehenen Bibliothek irgend verlangte." (1912/15, 76). Obwohl Werner Stark eine solche besondere Beziehung zwischen K. und Kant bezweifelt, lässt sie sich auch aus seiner deutlichen Wirkung auf Kants kritische Philosophie und Religionsphilosophie bestätigen, was hier nicht weiter ausgeführt werden kann. Auch dass Kant K. nur einmal schriftlich erwähnt, als er sich in seinem Schreiben an den König von 1756 als dessen Nachfolger bewarb, spricht nicht dagegen. Obwohl Matthew Tindal in Kants Texten nicht vorkommt, wäre es sehr unwahrscheinlich, dass er nicht von dessen Hauptschrift "Christianity as old as the Creation ...", die auch die "Bibel des Deismus" genannt wird, mindestens durch K.s Widerlegung Kenntnis erhalten hätte, zumal sie 1741 in deutscher Übersetzung erschienen war, da er nicht wie K. englisch las, auch wenn man Kants Verwendung des Lucrez-Zitates "Tantum religio potuit suadere malorum" (AA 6/131 -bei Tindal dt. 121) für unabhängig halten könnte. Insbesondere in K.s "Elementa philosophiae rationalis sev Logicae cvm generalis tvm specialioris ..." von 1747 (438 S.) finden sich zahlreiche Aussagen, die als Ansatzpunkte für Kants Denken gelten können. Dort erklärt K. auch, dass er bereits eine Übersetzung des Lockeschen Nachlasswerkes "Of the conduct of the understanding" in Druck gegeben habe ("eius versionem Germanicam prelo iam subiecimus", dort 214). Es ist bisher nicht geklärt, ob die nach seinem Tode von George David Kypke herausgegebene Übersetzung des Nachlasswerkes unter Verwendung dieses (nicht aufgefundenen) Manuskriptes angefertigt wurde. So wird man die Bemerkung des Verfassers, dass diese Übersetzung "auf Anregung Knutzens" entstanden sei, wohl verstehen müssen (XVII). Auch diese Schrift hat einen merklichen Einfluss auf Kant ausgeübt, obwohl er sie nie erwähnt, wie ich früher bereits dargelegt habe (in: Aufklärung 1(1986)27-66). - Martin Knutzen war im Sinne seiner Lehrer Johann Heinrich Keuschner und Franz Albert Schultz bestrebt, den Pietismus mit Wolffscher (.mathematischer1) Methode rational zu transformieren und der natürlichen Vernunft eine entscheidende Rolle besonders in der Befolgung der Gesetze der Moral zuzugestehen. In seiner rationalen Apologetik des Christentums hält er die Offenbarung, "deren himmlischer Ursprung von unumstößlicher Gewißheit ist" (§ 76), für "unumgänglich nothwendig" (§ 28), ihre wesentlichen Inhalte für nicht widersprüchlich (§§ 41, 43) und ihre .Begnadigungsordnung' für vernunftgemäß (§ 51). So wird die christliche Religion als die einzig wahre ermittelt, weil nur sie im Gegensatz zu allen anderen ein überzeugendes Versöhnungsmittel zur Verfügung stellt, nämlich den Opfertod Jesu Christi (§ 39), der allen Ansprüchen der Vernunft in höchstem Maße genügt. Um diese vernünftige Erkenntnis aber zu beleben, ist ein göttlicher Gnadenbeistand erforderlich, der allerdings das Eingeständnis der eigenen sündigen Unzulänglichkeit voraussetzt (§ 79). In der "Vertheidigtejn] Wahrheit" gegen Tindal geht K. besonders auf den Kernvorwurf der Deisten ein, dass der Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber den NichtChristen mit der allumfassenden Gerechtigkeit und Liebe Gottes nicht vereinbar sei. K. bietet als Lösung sein Pyramiden-Modell an: Der Weg zum Himmel gleiche einer Pyramide. Ursprünglich waren die Menschen in deren oberen Bereichen angesiedelt, wo man in Ansätzen bereits "die glänzende Stadt des Himmels" schauen kann. Durch den Sündenfall ist die Menschheit auf die unteren finsteren Stufen zurückgefallen. Gott war nicht verpflichtet, diesen Absturz durch ein besonderes Wunder rückgängig zu machen. Alle aber sind eingeladen, hinaufzusteigen und dabei die angebotene göttliche Hilfe anzunehmen, so dass niemand wirklich ausgeschlossen ist. Ein automatisches Eingreifen Gottes würde dagegen die Freiheit des Menschen aufheben (§13 f.). In der "Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift" stellt K. eine bemerkenswerte Harmonie der Bibel mit dem rein philosophischen Gottesbegriff fest, die in ihrer Klarheit gleichzeitig den Menschen die von Gott bereitgestellten ,Begnadigungsmittel' vermittelt (vgl. XXXIX). - Es dürfte auch heute immer noch nicht ganz uninteressant sein festzustellen, wie ein hochangesehener und umfassend gebildeter Gelehrter des 18. Jh.s, für den die Logik unerlässliche Voraussetzung seines Denkens war, sich zu einer so weitgehenden rationalen Apologetik verstehen konnte, wie sie heute kaum mehr für möglich gehalten wird. Bis zu einem gewissen Grade ist ihm Immanuel Kant darin gefolgt, indem er die Texte des Alten und Neuen Testaments in seiner Religionsschrift für erstaunlich vernunftgemäß hielt. Für K. gab es den ,,garstige[n] breite[n] Graben" zwischen den ,,zufällige[n] Geschichtswahrheiten" und "notwendigen Vernunftwahrheiten" noch nicht, über den Lessing 1777 klagte. Dabei war K. durchaus eigenständig: Obwohl er einerseits (im Gegensatz zu den Hallischen Pietisten) die Philosophie Wolffs für besonders geeignet hielt, unter Leitung der Vernunft eine moralische Besserung des Menschen und das gebotene Streben nach Heiligkeit zu fördern, vertrat er andererseits gegen Wolff in seinem Werk "Systema causarum efficientium" von 1745 in der Commercium-Frage den influxus physicus, für den Kant später als Grund die sustentatio "omnium a principio communi" oder "ab uno" (AA 2/409) ansah, näherhin vom göttlichen intellectus (1/413). Leider ist das Ansehen des damals .berühmten' Martin Knutzen inzwischen wohl zu Unrecht verblasst. Der zunehmend erleichterte Zugang zu seinen Werken (auch seine Logik ist 1991 als Reprint erschienen) durch Arbeiten wie die vorliegende könnte diesem Mangel abzuhelfen dienlich sein.
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