Das 20. Jahrhundert war nicht nur gekennzeichnet durch die beiden großen Weltkriege, sondern ebenfalls durch Migrationen gigantischen Ausmaßes. Außerhalb von Kriegs- und Bürgerkriegsszenarien, in denen die Menschen die Flucht ergriffen oder vertrieben wurden, war die Suche nach Arbeit, oft um erdrückender Armut zu entgehen, das wichtigste Motiv für Migranten. Ihre Gesamtzahl wurde Ende des 20. Jahrhunderts weltweit auf mindestens 125 Millionen geschätzt. Die Folge dieser Migrationsbewegungen sind in vielen Ländern multikulturelle Verhältnisse. Daneben gibt es aber auch eine Erscheinung, auf die der Amerikaner Huntington hingewiesen hat, nämlich den möglichen Zusammenprall ganzer Zivilisationen, hauptsächlich der jüdisch und christlich geprägten westlichen Welt mit den islamisch geprägten Ländern.
Diese Gegebenheiten haben natürlich einen großen Einfluß auf das Denken der Menschen und es leuchtet ein, daß der Toleranzbegriff fortan eine zentrale Stellung einnimmt und zu einem brisanten kulturellen Schlüsselbegriff in der deutschen Sprache geworden ist. Der Toleranzbegriff wird als eine wichtige Orientierungskategorie für das Zusammenleben angesehen. So erscheint es bei den multikulturellen und interkulturellen Verhältnissen, die ja schon welthistorische Ausmaße haben, wichtig, daß gerade auch von seiten der Wissenschaft eine Auseinandersetzung mit dem Toleranzbegriff erfolgt.
In dieser Situation hat nun der Verlag Traugott Bautz in der Schriftenreihe Bausteine zur Mensching-Forschung eine bemerkenswerte Neuerscheinung herausgebracht: eine in zwei Bänden vorgelegte Aufsatzsammlung "Interkulturelle Orientierung - Grundlegung des Toleranz-Dialogs", zusammengestellt, eingeleitet und herausgegeben von Dr. Hamid Reza Yousefi und Prof. Dr. Klaus Fischer, beide aus dem Fachbereich Philosophie, der Universität Trier. Initiator des Projektes "Bausteine zur Mensching-Forschung" ist Dr. Hamid Reza Yousefi, der seit 1991 über die phänomenologische Toleranzhemeneutik Menschings und deren Anwendbarkeit auf den interkulturellen Dialog forscht.
Die Aufsatzsammlung "Interkulturelle Orientierung - Grundlegung des Toleranz-Dialogs" ist bemerkenswert hinsichtlich der außerordentlichen Bandbreite der Autoren, die nicht nur dem Bereich der Wissenschaft, sondern auch interessanterweise auch aus dem Bereich der Politik entstammen; denn in dem Raum der Politik haben sich ja gerade die Verhältnisse ergeben, die so hohe Anforderungen an den Toleranzbegriff stellen. Der Bereich der Wissenschaft deckt nahezu alle Gebiete aus dem Umfeld des Toleranzbegriffs ab; sie erstrecken sich von Philosophie, Germanistik, Soziologie und Theologie über Ethnologie, Orientalistik, Konflikt- und Entwicklungsforschung bis zur Psychologie und Pädagogik. Der Bereich der Politik führt von dem Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan über den Staatspräsidenten des Iran Dr. Seyyed Mohammad Khatami bis zum Präsidenten des Deutschen Bundestags Dr. Wolfgang Thierse und umfaßt über 70 Ausätze. Bemerkenswert ist auch, daß die Autoren keineswegs ausschließlich europäisch geprägt sind, sie entstammen unterschiedlichen Religionen und Kulturkreisen. Damit repräsentiert die Aufsatzsammlung in mehrdimensionaler Hinsicht eine ungeheure Spannweite.
Die Mehrzahl der Autoren erscheinen beseelt von dem Gedanken, die gesamte Menschheit könne in einer gemeinsamen Philosophie vereinigt werden. Angesichts des infolge der multikulturellen Verhältnisse und interkulturellen Begegnungen entstandenen Konfliktpotentials gehen viele Autoren davon aus, daß sich durch geisteswissenschaftliche Erforschung des Toleranzbegriffs eine Toleranzkonzeption entwickeln läßt, die in der Lage ist, das Konfliktpotential abzubauen. Dabei liegt das Bemühen vieler Autoren darin, neben dem Toleranzbegriff ebenfalls den interkulturellen Dialog zu einer Medizin für konfliktgeladene Gesellschaften zu entwickeln. Die Bandbreite der Grundpositionen ist weit gespannt: So wird in interkulturellen und multikulturellen Verhältnissen eine Bereicherung des Lebens oder eine Schwächeerscheinung der Gesellschaft, in den meisten Fällen aber eine durch wissenschaftliche Forschung zu bewältigende Aufgabe gesehen.
Der Aufsatzsammlung "Interkulturelle Orientierung - Grundlegung des Toleranz-Dialogs" dürfte eine weite Verbreitung sicher sein; denn auf Grund der gesellschaftlichen Gegebenheiten ist der Toleranzbegriff in nahezu allen Bewußtseinen präsent und auf Grund der beachtlichen Bandbreite der Autoren ist mit großer Resonanz bei allen Lesern zu rechnen. Eine weite Verbreitung ist der Aufsatzsammlung auch deshalb zu wünschen, weil sie mit dem Toleranzbegriff sich auseinandersetzende Denkprozesse in Bewegung setzen und damit einer allzu unreflektierten Verwendung des Toleranzbegriffs entgegenwirken kann. Genau an dieser Stelle ist das Zentrum zu vermuten, von dem aus das Werk Wirkungen ausstrahlen wird. Denn nichts ist so charakteristisch für eine Kultur wie die Art und Weise des Denkens der in ihr lebenden Menschen. Die Aufsätze enthalten ja alle sehr unterschliedliche Gedankenentwicklungen im Umgang mit dem Toleranzbegriff und so wird den Lesern durch die Beschäftigung mit ihnen ein mehr in die Tiefe gehender Blick geöffnet für verschiedene Religionen und Kulturen, wie überhaupt für Menschen mit anderer Weltauffassung.
In jedem Fall hält das Werk, was es verspricht: Interkulturelle Orientierung und Grundlagen für den Dialog. Schon jetzt läßt sich voraussagen, daß es sich als Standardwerk in allen mit dem Begriff Toleranz zusammenhängenden Fragen etablieren und sich somit zu einem festen Bestandteil nicht nur der Universitätsbibliotheken, sondern vermutlich auch der allgemein bildenden Schulen entwickeln wird.
von Peter Gerdsen
Peter Gerdsen ist emeritierter Professor für Kommunikationssysteme an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg