Die vorliegende Arbeit untersucht Edith Steins frühe Philosophie im Horizont der deutschen Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Referenzpunkt im ersten Teil ist die für die Neuzeit zentrale Frage des Individuums nach sich selbst. An exemplarischen Texten (u. a. Herder, Fichte) bzw. modellhaften Denkweisen (u. a. Jugendbewegung, Neue Sachlichkeit, Kälte- Habitus) werden Wege der Selbst-Konstitution entfaltet. Es wird eine Zwangsläufigkeit erkennbar, mit der das Individuum in das Zentrum der lebensweltlichen Wirklichkeit rückt. Das Ich hat nicht nur ein Verhältnis zu sich selbst; es setzt sich selbst und verwirklicht sich selbst. Am Ende stehen „Selbstermächtigung“ und verabsolutierende Ansprüche.
Der zweite Teil konzentriert sich zunächst auf Steins Dissertation "Zum Problem der Einfühlung" (1916). Edith Stein will die ursprüngliche Korrelativität von Welt und Bewusstsein ergründen. Zur Welt gehört aber nicht nur das fragende und reflektierende "Ich", sondern unabdingbar auch fremdes Bewußtsein. Steins Interesse richtet sich auf die philosophischen Voraussetzungen für die Bedingung der Möglichkeit von Fremdwahrnehmung. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die epistemologische Struktur in der Beziehung auf das Faktum "fremdes Bewußtsein" zu beschreiben. Zugleich möchte sie herausfinden, wie das Individuum sich seiner selbst bewusst wird bzw. sich konstituiert. Den fremden "Anderen" vestehen bedeutet, dass er keine Sache ist, sondern Subjekt wie ich selbst. Er hat ein Bewußtsein von mir wie ich von ihm. Ich bin für ihn ein Fremder, wie er es für mich ist. Somit gehörtr der "Andere" immer zum Gegebensein der Welt. Mit einer derartigen Einsicht fängt das Fragen aber erst an. Wie steht es mit der Ursprünglichkeit der eigenen Erfahrung, wenn es noch andere Ursprünglichkeiten gibt? Gibt es trotz der Pluralität der Subjektivitäten eine Verschränkung gleicher Strukturen und unter welchen Bedingungen? Kann man bei vielen Subjekten eine Vernunft und eine Wahrheit voraussetzen? - Edith Stein geht davon aus, dass ihr in der phänomenologischen Arbeitsweise, die sie bei E. Husserl und A. Reinach gelernt hatte, das Instrumentarium zur Verfügung steht, um die orginäre Wahrnehmung des "Anderen" zu leisten, um sein leibhaftes Gegeben-sein adäquat zu begreifen, ohne egozentrische Dominanz und ohne ideologische Projektionen. Mit "Einfühlung" hat sie eine praktische Erkenntnisweise vorgestellt, durch die Intersubjektivität ermöglicht wird: Selbstverstehen durch Fremdverstehen. Das "Ich" braucht den "Anderen" zur Vergegenwärtigung des eigenen Seelenlebens. Das "Ich" braucht das Angeschautwerden vom "Anderen".
Nun ist nicht zu übersehen, dass E. Stein zum Ende ihrer Dissertation sich der Grenzen des husserlschen Ansatzes (bzw. die metaphysische Lücke) immer bewusster geworden ist und sie das Projekt abbricht. Während ihrer redaktionellen Mitarbeit (1916-1918) an den Manuskripten ihres Lehrers Husserl ("Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie") gelingt ihr dann der Durchbruch. In den Schriften, die im zeitlichen Umfeld jener Jahre entstanden sind, deutet sich eine hermeneutische Kehre an, in der die Dialektik von Suchen und Gefundensein bzw. ein präreflexives Vertrauen E. Steins Denkweg zu prägen beginnen. Wenn sie über ihr Selbstverständnis schreibt, taucht eine neue Sprache auf, die sie in den kommenden Jahren profilieren wird. "Existenz" z.B. wird so verortet: "Das Leben der Seele, die nicht von außen getrieben, sondern von oben geleitet wird. Das von oben ist zugleich ein von innen. Denn in das Reich der Höhe erhoben werden, bedeutet für die Seele, ganz in sich hineingesetzt werden" (Freiheit und Gnade, 1921). Ein Ausblick inn der vorliegenden Arbeit skizziert E. Steins Annäherung an das "ontologische Apriori", Einsichten, die aus der Dissertation herausgewachsen sind.
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