Das Dialogfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit ist jederzeit Gefahren ausgesetzt, missverstanden und missbraucht zu werden. Wahn wird hier verstanden als eine eigensinnige Beurteilung der Realität, die eigene Narrative entwickelt und alle anderen zwingt, ihr soziales und politisches Leben danach auszurichten. Immer haben wir es mit Wahrnehmungskonstruktionen zu tun, wo sich der Mensch auch immer befindet, und zwar auf allen politischen und soziokulturellen Ebenen. Wer sich einlullen lässt und die Rahmensetzungen dieser Narrative akzeptiert, wird bestenfalls als Stimmvieh wahrgenommen und dementsprechend behandelt. Wer sich aber diesen Narrativen widersetzt, wird auf sozialen und politischen Bühnen mit allen Mitteln diffamiert und bekämpft. In einer gesunden Gesellschaft haben wir die Vielfalt der Narrative zu akzeptieren, dürfen aber nicht andere Narrative durch Gewalt und Arbeiten mit Verschwörungstheorien als Propaganda deklarieren.
Peter Gerdsen gelingt es, im Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit einen würdigen Platz für das Denken und eigene Aktivitäten einzuräumen. Diese neue Kalibrierung des Spannungsfeldes vollzieht der Verfasser im Lichte des Neuen Testamentes. Denkspiele, wie: ›Gott ist tot‹ finden dabei, als nicht ernst zu nehmend, keine Berücksichtigung. Dies rührt daher, dass eine solche Annahme einen ausschließlich philosophischen Selbstbezug hat, der nach außen verheerend wirken kann. Wenn Gott für mich als Philosoph oder ideologischer Akteur tot ist, so heißt das noch lange nicht, dass er für andere ebenfalls tot ist und tot sein muss.
An dieser Nahtstelle fängt die Überlegung über die Transzendenzfreiheit an, nicht nur für uns, sondern auch für die anderen. Diesem Welt- und Menschenbild nach sind wir nicht berechtigt, Spiritualität aufgrund unseres transzendenzverschlossenen und geradezu anthropozentrischen Blicks auszuschließen. Jeder Eingriff oder Ausschlussversuch ist gegen die Prinzipien der Freiheit selbst. Die Durchsetzung eines solchen Blicks ist nur möglich durch die Anwendung struktureller und organisierter Gewalt.
Das Werk von Peter Gerdsen gewinnt angesichts der gegenwärtigen Zeitverhältnisse zunehmend an Aktualität. Die Aufgabe, die sich der Verfasser stellt, wird in aller Deutlichkeit bereits im Vorwort formuliert: »Die vorliegende Schrift möchte eine Antwort geben auf einige Erscheinungen in Deutschland, die von vielen Zeitgenossen als gefährlich angesehen werden. Erstens wird beobachtet, dass ein Gedankenaustausch auf sachlicher Grundlage nicht mehr möglich ist. Es entsteht immer häufiger der Eindruck, dass der Gesprächspartner offenbar in einer ganz anderen Welt lebt, als wäre er ein Traumtänzer. Zweitens erlebt man zunehmend, dass jemand konträre Ansichten als einen persönlichen Angriff erlebt mit der Folge von aggressiven Reaktionen und Verweigerung einer argumentativen Auseinandersetzung. Drittens lässt sich beobachten, dass sich viele Leute gar nicht dessen bewusst sind, in welchem Maße ihre Weltsicht sowie ihre Beurteilung der Geschehnisse in der Welt fremdgesteuert sind. Man kann den Eindruck haben, als hätte eine fremde Besatzungsmacht von ihrem Bewusstsein Besitz ergriffen«. Diese Erscheinungen haben ein Ausmaß erreicht, aufgrund der nicht nur eine Spaltung der Gesellschaft zu erwarten ist, sondern darüber hinaus diese im Chaos zu versinken droht.
Dass der Verfasser angesichts der Komplexität der zu behandelnde Probleme die Gesprächsform wählt, macht das Buch leicht lesbar. Die großen Philosophen werden – so führt der Verfasser aus - auf die gestellten Fragen keine Antwort finden, hauptsächlich weil sie von einem festen Begriffssystem ausgehen. Deshalb wird eine Ebene unterhalb der Begriffe aufgesucht, indem das Denken selbst untersucht wird. Dazu erfolgt ein Eintauchen in die untersten Tiefen unserer Kultur. Gerdsen gelangt damit zum Neuen Testament, dem Kerndokument des Christentums. Dort ist es der Apostel Paulus, der sich ausführlich mit dem Wesen des Menschen und seinen Denkstrukturen befasst. Der Verfasser zeigt, dass es zwei von dem Apostel beschriebenen Menschentypen sind, die das Gegenwartsgeschehen beherrschen: der ›nur-seelische Mensch‹ und der ›geistige Mensch‹, deren Denkstrukturen der Apostel beschreibt. Von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung der beschriebenen Erscheinungen ist der Wirklichkeitsbegriff. Es geht um die Frage, inwieweit die beiden Menschentypen in der Lage sind, die Wirklichkeit zu erfassen.
Mit den vom Apostel Paulus beschriebenen Denkstrukturen des ›nur-seelischen‹ und des ›geistigen‹ Menschen sowie mit dem unterschiedlichen Erfassen der Wirklichkeit beider Menschentypen begibt sich Gerdsen auf eine spannende Reise durch die verschiedensten Bereiche des Lebens mit einer erstaunlichen Erklärungstiefe. Die eingangs beschriebenen, unsere Gesellschaft bedrohenden Erscheinungen können im Lichte dieser Betrachtungsweise verstanden werden. Aber neben der Offenlegung der Ursachen der Spaltung der Gesellschaft verweist der Verfasser auf ein gewisses Bedrohungspotential. In einer Gesellschaft, in der die nur-seelischen Menschen in der Mehrheit sind, laufen die geistigen Menschen Gefahr, den ›geistigen Tod‹ zu erleiden.
Peter Gerdsen sensibilisiert mit seinen Überlegungen und seinem transzendenzoffenen Verständnis, sich mit dem Spannungsfeld zwischen Wahn und Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Diese Haltung macht das Werk interessant für diejenigen, die auf einer transzendenzoffenen Selbstsuche sind und diejenigen, die in ihren transzendenzverschlossenen Kämmerlein verharren. Diesem Buch ist eine breite Leserschaft in unserer zerklüfteten Welt zu wünschen. Ein Buch, das seinesgleichen auf gleicher Augenhöhe sucht.
Hamid Reza Yousefi
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