Thérèse Gräff promoviert in deutscher und französischer Philosophie an der Prager Karls-Universität. In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich mit der Frage nach der Genese von Sinn. Zudem unterrichtet sie Studierende in der Philosophie der Kunst und arbeitet an einer philosophischen Praxis mit Kindern.
Sinn- und Wertefragen sind nicht nur logotherapeutische, sondern gleichzeitig auch philosophische Fragen. Das Buch von Thérèse Gräff leuchtet den philosophischen Kontext der Logotherapie und Existenzanalyse nach Viktor Frankl aus.
Das erste Kapitel führt in zentrale Begriffe wie Logotherapie, Existenzanalyse und phänomenologische Analyse ein. Es stellt das Selbstverständnis der Logotherapie anhand von Schlüsselbegriffen wie Freiheit, Verantwortung und Transzendenz dar. Die weiteren Kapitel behandeln dann Wurzeln und Querbezüge zwischen der Logotherapie und der Philosophie, wobei die Autorin auch eigene Interpretationen und Erweiterungen wagt.
Ein besonderes Merkmal der Logotherapie ist das Menschenbild mit den drei Dimensionen Körper, Psyche und Geist. Wie Viktor Frankl betonte auch der Philosoph Max Scheler die Sonderstellung des Menschen aufgrund seiner geistigen Dimension. Frankl nimmt auch an mehreren Stellen ausdrücklich Bezug auf ihn. Weitere Parallelen zwischen den beiden Philosophen sieht die Autorin bei den Konzepten Weltoffenheit, Selbsttranszendenz und Personsein.
Im Gegensatz zu vielen Philosophen wie zum Beispiel Immanuel Kant gründet die logotherapeutische Ethik nicht in der Vernunft, sondern in der Emotionalität. Die Autorin zeigt, wie sich die Sinn- und Wertlehre der Logotherapie auf die phänomenologische Philosophie von Max Scheler und dessen Lehrer Edmund Husserl zurückführen lässt. Beide Philosophen betonten das Erfühlen von Werten und die Emotionalität der ethischen Intuition.
Auch beim logotherapeutischen Begriff der Freiheit gibt es Bezüge zur phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl. Husserl meint mit dem Begriff der «Epoché» die „Einklammerung“ aller Vorurteile und die Öffnung für das, was sich dann zeigt. Frankl spricht von der «Trotzmacht des Geistes» und vom «Sinn des Augenblicks». Nach ihm haben Menschen immer die Freiheit, sich in einer Situation von der eigenen physischen und psychischen Befindlichkeit zu distanzieren, und dann die erspürten Werte zu realisieren. Die Autorin beschreibt die logotherapeutische Verwirklichung von Sinn als praktische Epoché.
Eine weitere Quelle der Inspiration war für Viktor Frankl die Dialogphilosophie von Martin Buber, den er wiederum an mehreren Stellen zitiert. Martin Buber unterscheidet klar zwischen der Ich-Es-Beziehung und der Ich-Du-Beziehung. Die personale Begegnung in der Ich-Du-Beziehung ist für die Logotherapie zentral, sowohl in der Liebe zwischen zwei Menschen als auch in der Beziehung zwischen Therapeutin und Patientin. Neben diesen Hinweisen zu den Wurzeln von Frankls Philosophie stellt die Autorin zudem interessante Querbezüge zu weiteren Philosophinnen und Philosophen her. Zu erwähnen ist vor allem Edith Stein, die sich mit der intersubjektiven Welt des Personalen beschäftigte. Weitere Querbezüge macht die Autorin zu Kitaro Nishida und Emmanuel Lévinas.
Im abschliessenden Kapitel nutzt die Autorin die Philosophie von Natalie Depraz, um die philosophischen Grundlagen der Logotherapie zu erweitern. Sie entwickelt dabei das Konzept einer praktischen, intersubjektiven Ethik.
Das Buch von Thérèse Gräff verbindet philosophische Reflexion mit der Praxis der Logotherapie. Es behandelt die theoretischen Grundlagen der Logotherapie und ist für philosophisch Interessierte gut verständlich. Ein kleiner Wermutstropfen sei aber erwähnt. Die Bedeutung des Buchtitels hat sich mir bis zum Schluss nicht erschlossen. Für mich ist es kein Gegensatz, gleichzeitig bei Sinnen zu sein und zu philosophieren – ganz im Gegenteil. Trotzdem empfehle ich das Buch sehr zur Lektüre. Es ist eine lesenswerte Einbettung von Frankls Denken in die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts.
Bruno Frischherz
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