Rosa Maria Marafioti

Heidegger und die Gottesfrage

Heidegger and the question of God / Heidegger e la questione di Dio

Das Denken Martin Heideggers IV 4

Hans-Christian Günther † (Hrsg.)

fortgeführt von Ivo De Gennaro und Gino Zaccaria

Rezension


Die sehr dicht geschriebene und ausführlich dokumentierte Monographie von 84 Seiten Fliesstext mit Anmerkungen bietet eine immanente Darstellung von Heideggers Denkweg und seiner Behandlung der Gottesfrage im Verhältnis zur Seinsfrage, zur Wahrheit und Geschichte. Die Herkunft aus dem Milieukatholizismus erklärt eine anfängliche Affinität zur Gotteslehre im Rahmen der Ontologie und die Resonanz von Heideggers Denken in der katholischen Theologie und Philosophie, nachklingend etwa in den Schriften des katholischen Theologen Bernhard Welte (der nicht erwähnt wird). Ebenso prägend wird aber auch die wachsende Entfremdung und der Bruch mit der (thomistischen) Tradition und allen kirchlichen Institutionen (obwohl Heidegger nie aus der Kirche austritt), die Entwicklung seiner radikalen Metaphysik-Kritik von der Fundamentalontologie und ihrer Daseinsanalytik zur späteren „Kehre“ und Seinsgeschichte und dem Ausblick auf das Ereignis und den Topos eines rettenden Gottes, oder der Göttin. Es geht der Verfasserin nicht um eine Forschungs- oder Rezeptionsgeschichte Heideggers, sondern um zuverlässige Lektüre eng am Wortlaut der Texte Heideggers, mit Hilfe relevanter punktueller Zitate aus der Sekundärliteratur in den Anmerkungen als hermeneutische Hilfestellung. Dabei wird auch italienische Forschung berücksichtigt, nicht nur englische und deutsche Sekundärliteratur. Der „ganze Heidegger“ in allen seinen Phasen und im Nachlass, so weit er in der Gesamtausgabe erschienen ist, wird ausgewertet. Heideggers Gedanke ist erstaunlich einfach: Sein nicht wie in der Tradition als Anwesenheit, nicht präsentisch zu verstehen, sondern als etwas, was aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kommt, sich verbirgt und entzieht, ohne dass dieser dem Sein wesentliche „Entzug“ (dass es sich nicht präsentisch fassen und auf Seiendes reduzieren lässt), als Bewegung, Wink und Huld des Seins selbst explizit mitgedacht wurde. Angesichts dieser Denkrichtung erweist sich eine Konzeptualisierung Gottes als dem höchsten Seienden als statisch und unfreiwillig „atheistisch“ im Blick auf einen lebendigen und kommenden Gott. Das technisch und begrifflich Unverfügbare wird durch Heideggers Kommentare zur äussersten Seinsvergessenheit mit der Eigendynamik der technischen und destruktiven Zivilisation plausibel gemacht. Sein soll retten, aber es wird nicht zugelassen! Dabei bedient sich Heidegger aller Register seines von ihm selbst zusammengestellten „Kanons“ der griechischen und deutschsprachigen Philosophie und seiner intensiven Zugangsweise zur Dichtung, insbesondere zu Hölderlin als Krönung und zu Nietzsche als Dichter und Denker im vorletzten Stadium der äussersten Seins-Verdrängung.

Die vorliegende Darstellung ist derart kompakt, auf den Einen Gedanken in seinen vielfältigen und sich wandelnden Formulierungen fokussiert und ausführlich dokumentiert, dass es schwerfällt, was im Durchgang und Überblick dieser Schrift zusammengestellt wird, in Kürze ohne Bedeutungsverluste zusammenzufassen. Die Schrift referiert und organisiert gedanklich, was Voraussetzung und Mittel ist für Heideggers Zugang zum einfachen, aber nicht bequem fassbaren Gedanken, der von der sprachlichen Darbietung Heideggers mit ihren zahlreichen Substantivierungen und stilistisch seltsamen Komposita und Neologismen überaus opak und für ein rasches Verstehen widerborstig ist.

Heidegger kommt der sog. negativen Theologie sehr nahe, die sich das Reden über Gott schwer macht und dem Schweigen im Verhältnis zum Göttlichen einen hohen Stellenwert beimisst. Entsprechend gibt es bei Heidegger keine Gottes-Doktrin. Im Unterschied zur neueren Theologie macht Heidegger von den Hebräischen Schriften der Bibel und der ganzen Bibel kaum Gebrauch, obwohl es biblische Fundstellen für seine zeitlich-geschichtliche Dynamisierung Gottes gäbe. Vielmehr hält er sich an Elemente der altgriechischen Philosophie und bedient sich der Philosophiegeschichte nicht als Historiker und Philologe, sondern als gebildeter Laie, leidenschaftlicher und angeregter Leser mit einer Mission zum eigenen Denken. Die Impulse seines langen Denkwegs im 20. Jahrhundert sind immer noch wirksam und werden von Frau Marafioti aufgenommen und weitergegeben. Wer das Buch aufmerksam liest, weiss danach, wovon Heidegger an welchen Stellen wie schreibt.

Es ist fast bedrückend, mit der engen Lektüre dieser Darstellung nachvollziehen zu müssen, wie sich Heidegger nach seinen ersten Jahren als Assistent Husserls allmählich und schliesslich krisenhaft aus dem Kontext seiner Gegenwartsdiskussionen zurückzieht. Die Verirrung des Nationalsozialismus, die von Heideggers mangelndem politischen Urteilsvermögen zeugt und die rasch einsetzende Ernüchterung und Isolierung Heideggers als eines hoch motivierten Hochschullehrers und seine Wandlung zum versponnenen Privatmann hat seine Neigungen zur Polemik gegen Zeitgenossen und den ganzen „Betrieb“ verstärkt. Immer weniger versteht es Heidegger, in seinem Denken an Zeitgenossen anzuknüpfen oder gar mit ihnen fruchtbar zu kooperieren. Seine Privatnotizen verraten seine Ressentiments selbst gegen jene, die ihm denkend nahe blieben, ohne ihm hörig zu folgen. Doch in seinem tastenden und eigenwilligen Denken ausserhalb der kirchlichen und universitären Institutionen, unbeirrt vom Konformitätsdruck der technischen Zivilisation, findet sich eine eindrückliche Denkbewegung von der Absonderung zur (Sprach-)Gemeinschaft, die allerdings in der Intention stecken bleibt und nicht zur konkreten Ausführung gelangt. Seine Selbststilisierung als (einziger) fragender Denker in dürftiger Zeit, die von Bildern Hölderlins und Nietzsches und einer Musikalität für Sprachklang gespiesen wird, qualifizieren ihn als Denker der Nachbarschaft von Denken und Dichtung des sich entziehenden und im Entzug schenkenden Seins, wenn nicht gar als Dichter oder Mystiker der Gelassenheit. Dazu ein schönes Zitat aus der letzten Fussnote des Buches: „Heidegger lässt einen Stern an den Ausguss seines Brunnens in Todtnauberg setzen. Er verwendet die Metapher des Sterns besonders in den Schwarzen Heften der Jahre 1957–1959, in denen die Ausdrücke ‚Weltstern‘, ‚Stern der Innigkeit‘, ‚Stern der Fuge‘, ‚Meerstern‘, ‚Sternen-Blick‘, ‚Sternen-Spiel‘ auftauchen und auf den Stern von Bethlehem angespielt wird [...]“. Der Zauber von Heideggers Bild-Sprache wird am Ende erwähnt, ganz nach der Maxime, die Heidegger liebte, dass „Herkunft Zukunft“ sei, und vielleicht auch eine neue, zweite Kindheit. Dieser Weg führt ihn allerdings nicht dazu, Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung als Parallelaktion seines Denkens zu anerkennen.

Völlig schleierhaft bleibt, wie diese neue oder erneuerte Religiosität aus der Lichtung des Seins ihren Weg von einer denkenden Elite und dem Solitär Heidegger hinunter zu einem „Volk Gottes“ finden könnte, nachdem für Heidegger die vorhandenen und sich zu seinen Lebzeiten wandelnden Strukturen und Inhalte kirchlicher Verkündigung kaum mehr dafür in Frage kommen. Werden es esoterische Kreise sein?

Warum bleibt Heidegger, trotz der Einfachheit und Nähe zur Kunst, notorisch anstrengend zu lesen? Warum findet er keine vermittelnde und verbindende „Gemeindesprache“? Eine Vermutung könnte darin bestehen, dass seine Methode der Abgrenzung, die dazu dienen soll, mit aller Gewalt eingefahrene Klischees zu vermeiden, immer wieder zu einer Unter-Bestimmtheit führt, die man als „Offenheit“, aber auch als „Unklarheit“ empfinden mag. Wer fast ausschliesslich sagt, was X nicht sei, lässt Spielraum für abschweifende Gedanken, die einer asketisch-treuen Lektüre, wie sie Frau Marafioti vorlegt, hinderlich werden können. So lösen die mitunter schönen und viel zitierten Ausdrücke und Wendungen Heideggers vom „Geläut des Seins“ und „Hüter des Seins“, aber auch sein Pathos der Erhabenheit, zu viel Assoziationen oder Aggressionen aus, die seine Leserschaft nach vielen Richtungen verführen und wegführen von seinem „einen und einfachen Gedanken“. Von „Geläut“ zum „Schellengeläut des Narren“ ist es ein kurzer Abstieg. Die Feststellung, dass auch die „Faszination für Heidegger“ inzwischen ganz andere Wege gegangen ist und sich eine postmoderne Gebrochenheit und Ironie dem Projekt einer monomanischen Seinsfrage widersetzt, lässt sich nochmals anhand der gediegenen Forschungsarbeit von Frau Marafioti überprüfen und neu bedenken. Vermutlich ist Heidegger nie die Eierschalen seines ersten, milieukatholischen Antimodernismus ganz losgeworden; diese Herkunft und sein Temperament haben ihn daran gehindert (oder davor bewahrt), die Fixierung auf die Seinsfrage und seinen alternativ-wissenschaftlichen Alleingang von aussen, sich selbst als männlichen Exponent einer Generation mit einem häufig verborgenen erotischen Doppelleben, zu spiegeln, auch in seiner kafkaesken Gestalt, um damit sein quasi-prophetisches Pathos selbstironisch einzuschätzen und sich von seiner elitären Gebärde zu entfernen. Es fehlt ihm, in der Sprache des Surrealismus gesprochen, „die letzte Lockerung“.

„Es war der Instinkt, der mich vielleicht gerade um der Wissenschaft willen, aber eine andere Wissenschaft als sie heute geübt wird, einer allerletzten Wissenschaft, die Freiheit höher schätzen liess als alles andere. Die Freiheit! Freilich: die Freiheit, wie sie heute möglich ist, ein kümmerliches Gewächs. Aber immerhin Freiheit, immerhin ein Besitz.“ (KAFKA, Franz: Forschungen eines Hundes, Schluss)

JEAN-CLAUDE WOLF


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