Konstantin Schwarzmüller

Freiburg - Paris:

Grenzerfahrungen aus dem Leben eines jungen Mannes

Mein Weg aus der Psychose

Rezension


Er ist 14 Jahre alt, als er im Rahmen des Schüleraustausches Ontario in Kanada bereist, und 17 Jahre alt, als er Tel Aviv, Jaffa und Jerusalem besucht, von der Besuchertribüne der Knesset die Reden von Yitzhak Rabin und Shimon Peres verfolgt und den Sonnenuntergang am See Genezareth erlebt. Im gleichen Jahr eine Abenteuertour durch Portugal und Marokko bis zu den Sanddünen der Sahara. Im nächsten Jahr - das Abitur ist gerade geschafft - eine Zug- und Fahrradreise über Berlin, Warschau und Minsk nach Moskau. So weit, so gut. Es sind Zeiten des Aufbruchs, in Russland, in Europa, im Kleinen wie im Großen - allerdings nicht frei von Unsicherheiten und Spannungen: Was wird auf uns zukommen? Wo geht es hin?

Gerade schienen die Länder unfassbar groß und die Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung unendlich vielfältig zu sein, da gerät der Autor dieses Berichts "in einen Strudel ambivalenter Gefühle" (S.12): Zivildienst oder Wehrdienst? Umweltschutz daheim, Projektarbeit im Ausland oder Sanitätsbataillon in einem internationalen Verband? Wenn "Ambivalenz" das Zusammentreffen widersprüchlicher Gefühle, Wünsche und Intentionen bedeutet, die in fast unauflöslicher Spannung miteinander ringen, dann beginnt genau damit für Konstantin Schwarzmüller eine 20-jährige Odyssee: Die Kaserne im Westerwald ist unerträglich, der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung wird abgelehnt, der Auslandseinsatz liegt in weiter Ferne, die Ängste werden immer massiver, die Bahnpolizei bringt einen verzweifelten jungen Mann in eine psychiatrische Klinik, wo Psychopharmaka helfen sollen, aber zu nichts führen als zu Muskelschmerzen und Verspannungen am ganzen Körper.

Quälende Verfolgungsängste, Anzeichen von Panik angesichts von uniformierten Personen lassen ihn unentwegt unterwegs sein, zu Fuß, mit dem Fahrrad, im Zug.

Die Nächte verbringt er auf Parkbänken, in Wäldern, am Stadtrand. Mainz - Freiburg - Ulm - Basel - Clairefontaine - Villach sind Orte, die Konstantin Schwarzmüller mit Klinikeinweisungen verbindet. Ängste und Wahnvorstellungen führen zur Diagnose: Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. In der Erinnerung an die stationären Aufenthalte sind es weniger die medizinischen Interventionen und die dauernden Umstellungen der Medikation als vielmehr die Angebote der Ergotherapie, der Physiotherapie und Sporttherapie sowie Gespräche mit Sozialarbeiter:innen, die als hilfreich erlebt werden, seine Ängste reduzieren und später eine Konfrontation mit den Orten seiner Fluchten ermöglichen.

In seinem eindrucksvollen Bericht geht der Autor nicht nur seinen psychotischen Krisenerfahrungen nach, sondern setzt sich auch mit den strukturellen und individuellen Bedingungen der beruflichen Entwicklung angesichts einer psychischen Erkrankung auseinander: Er findet genug Energie für eine Ausbildung zum pharmazeutisch-technischen Assistenten, beginnt ein lern- und leistungsorientiertes Studium der Pharmazie, das er aufgeben muss, weil ihm jeglicher Nachteilsausgleich verweigert wird. Ein zweites Studium, diesmal in Religionspädagogik, schließt er - trotz heftiger Krisen zwischendurch - mit dem Diplom ab. Doch die Belastung als Religionslehrer und als Leiter von Freizeitgruppen für Jugendliche ist groß: viel Verantwortung, wenig Schlaf, am Ende die Erfahrung, dass auch und gerade konfessionell gebundene Arbeitgeber keine Rücksicht auf besondere Belastungen nehmen und ihm schließlich jeglichen beruflichen Einstieg verweigern. Seine Kompetenzen wird er weder im Unterricht noch in der Jugendarbeit und nicht einmal in der Verwaltung oder in der Öffentlichkeitsarbeit der Caritas einbringen können: "Inzwischen hat sich bei mir der Verdacht eingeschlichen, dass Inklusion auf dem Arbeitsmarkt insbesondere für Menschen mit psychischer Behinderung ein Wunschtraum bleibt". (S.40) Kirchliche Träger lehnen seine Bewerbungen rundweg ab, geben ihm keinerlei Auskunft über die Gründe ihrer Ablehnungen. Und wenn er heute - als Teilzeitkraft in einer Apotheke tätig - Sätze in Kirchenblättern liest wie "Der Umgang mit psychischen kranken Menschen wird zum Testfall für den Grad der Menschlichkeit einer Gesellschaft" (S.48), kann der Autor bei so viel Doppelmoral nur wütend den Kopf schütteln - und sich glücklich fühlen über die wiedererlangte innere Stabilität, die hilfreichen Erfahrungen in trialogischen Gruppen und die erlebte Akzeptanz in seinem familiären Umfeld.

Der Bericht von Konstantin Schwarzmüller ist ein aktueller und lesenswerter Beitrag zur subjektiven Seite psychischer Krisen: Wer seinen Lebenslauf rekonstruiert, die Phasen der Erkrankung und der Therapie noch einmal Revue passieren lässt, kann das eigene Leben besser und neu verstehen und Menschen mit und ohne Psychose-Erfahrungen teilhaben lassen - sowohl an den dramatischen Momenten als auch an den heilsamen Perspektiven.

Jens Jürgen Clausen
Freiburg i. Br.


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