Es ist nichts weniger als selbstverständlich, über Selbstverständlichkeiten zu schreiben: Denn warum sollte man wissenschaftlich erläutern, was sich doch von selbst versteht? Anna Rabea Kayßers Dissertationsschrift (Univ. Kiel, 2021) über Christoph Martin Wielands Rhetorik der Evidenz gelingt dieses Kunststück jedoch: Denn während man beim Lesen vertrauter W.-Passagen sehr einverständlich mit dem Kopf nickt, wird einem klar, wie kunstvoll diese vermeintliche Selbstverständlichkeit erzeugt wurde. Zudem weist die Arbeit selbst diejenigen Tugenden auf, die man bei Qualifikationsschriften sehen möchte: In vorbildlicher Gliederung und Deutlichkeit präsentiert sie die Ergebnisse einer kenntnisreichen Textanalyse so, dass man sie für selbstverständlich halten könnte.
Der erste Teil ist einer rhetorischen Stilanalyse gewidmet, die W.s »Habitus der Selbstverständlichkeit« analysiert und eine Fülle von interessanten Mitteln der Evidenzerzeugung zusammenträgt. »Evidenz« ist dabei die rhetorische Entsprechung von »Selbstverständlichkeit« – ein glücklich gewählter Begriff, der auf eine lange philosophische wie rhetorische Tradition zurückblicken kann und speziell für die Aufklärung seines bildlichen Gehaltes wegen zentral war.
Der zweite Teil untersucht W.s Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. Die Textanalysen demonstrieren an konkreten Beispielen, was W.s persönliche Selbstverständlichkeiten in dieser Zeit sind. Daran anschließend zeigt Kayßer in einer Analyse der Gespräche unter vier Augen, wie sich diese frühen Grundannahmen bis in W.s Spätzeit mit nur leichten Modifikationen erhalten.
Der Schlussteil stellt W.s Rhetorik der Evidenz in die Tradition der Menippeischen Satire, wodurch ein stärkeres Licht auf ihre komischen Elemente geworfen wird. Sehr zu Recht betont Kayßer, wie sehr W. mit seinen Texten seine Leser unterhalten wollte, da nur so die erstrebte belehrende Wirkung der (Selbst-)Aufklärung gewährleistet werde. Er bleibt dabei durchaus seiner skeptischen Grundhaltung treu. Aber diese Skepsis erwuchs, wie man nun besser sieht, auf dem Boden einiger weniger Selbstverständlichkeiten, verbürgt durch Natur, Geschichte, persönliche Erfahrung und nicht zuletzt den common sense, der den Autor mit seinen (idealen) Lesern verbindet.
Jutta Heinz, Tübingen
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