Antonio Messina, Hamid Reza Yousefi [Hrsg.]

Denkfallen

Narzissmen der hinterlistigen Vernunft

Rezension


Weltumspannende Ereignisse wie etwa die Corona-Pandemie, wirtschaftliche wie politische Umbrüche und nicht zuletzt Konflikte und Kriege bieten vielschichtigen Verunsicherungen Räume zur Entfaltung. Weittragende Spekulationen, persönliche Präferenzen sowie die Interessen unterschiedlicher Lobbys, politischer Akteure und nicht zuletzt medial geschürte Ängste begünstigen diese Verunsicherungen und entwickeln katalysatorartige Beschleunigungen und Entgrenzungen von Selbst- und Weltwahrnehmungen.

Unterschiede dieser Wahrnehmungen sind darauf zurückzuführen, dass der Mensch dasjenige Lebewesen ist, welches sich über seine Selbst- und Weltwahrnehmung mit der ihn umgebenden, komplexen und mannigfaltig erscheinenden Welt vielfältig auseinandersetzt. Er erfährt die Komplexität der Welt über sein Denken, Fühlen, Intuieren und Empfinden, die die Funktionsweisen seines Bewusstseins abbilden. Sie konstituieren einerseits persönliche, andererseits erfahrungsbedingte Wahrnehmungskonzepte, die der Mensch als Anhaltspunkte benötigt, um mit der ihn umgebenden Welt interagieren zu können. Die Verarbeitung dieser Information jedoch ist ein zutiefst individueller Prozess, der unterschiedliche Welt- und Selbstentwürfe erzeugt, die sich gegenseitig ausschließen, widersprechen oder überschneiden können.

Auffällig sind hierbei Denkfallen, die als kognitive Dissonanzen sowie kontradiktorisch aufeinander bezogene Konzepte der Selbst- und Weltwahrnehmung betrachtet werden können. Im Spannungsfeld globaler Ereignisse bilden solche Denkfallen destruktive und unkontrollierbare Eigendynamiken aus, die sich in Vorurteilen, Stereotypen sowie Scheinwahrheiten und -fakten äußern. Diese erheben gemeinhin den Anspruch der Absolutheit sowie universaler Gültigkeit und schaffen inmitten ohnehin beunruhigender Krisen Räume der Desinformation, die nahezu sämtliche Lebensbereiche betreffen.

Die Autoren des Bandes untersuchen Denkfallen auf ihre zersetzenden Eigendynamiken hin und stellen sie unter vielschichtigen Schwerpunkten dar, um ihre Tragweite und ihr Zerstörungspotential strukturell zur Darstellung zu bringen. Sie schaffen ein Grundverständnis von Voraussetzungen, Mechanismen sowie Potentialen von Denkfallen, um die ihnen zu Grunde liegenden kognitiven Täuschungen neu zu diskutieren. Mit einem Umfang von 222 Seiten entfalten die insgesamt neun Beiträge aus Psychologie, Geistes-, Kultur- sowie Sozialwissenschaften Perspektiven auf Denkfallen und zeigen Möglichkeiten auf, kognitive Täuschungen und Dissonanzen neu zu durchdenken und somit vor Denkfallen zu warnen.

Eingeleitet wird der Band mit dem Beitrag von Bernd Hamm 'Denkfalle der Menschenrechte im Westen', der die historische Entwicklung der Menschenrechte im europäisch-westlichen Entstehungskontext untersucht. Er stellt fest, dass sie als Rechte mit universalem Anspruch eine Grundlage für eine würdige Weltgemeinschaft der Menschen sein können, jedoch vielfach als argumentative Kampfmittel einiger weniger, überwiegend westlicher Industriestaaten genutzt werden, um deren steigenden Ressourcenbedarf zu decken. Dass im Namen solcher Wirtschafts- und Machtinteressen die Menschenrechte zunehmend als Kampfbegriff genutzt werden, um ausschließlich die Interessen einiger Weniger zu verabsolutieren, widerspricht zutiefst ihrem eigentlichen Ziel. Einen Ausweg erblickt Hamm in einer Bestärkung gleichberechtigter, demokratischer Bemühungen aller Staaten, weg von einer eskalationsorientierten, hin zu einer friedensorientierten Völkerverständigung.

Peter Gerdsen argumentiert ähnlich in seinem Beitrag 'Menschenrechte - Entzauberung einer hinterlistigen Ideologie', dass viele Ausrichtungen der Menschenrechte fast ausschließlich der Verwirklichung bestimmter Machtinteressen dienen. Diese werden ihnen von Seiten europäisch-westlicher Staaten herangetragen, um jeweilige Absolutsetzungen eigener Ansprüche rechtfertigen und vollständig realisieren zu können. Gerdsens Annahme nach sind die als Menschenrechte ausgewiesenen Regelungen insofern hinterlistig, dass sie als Denkfalle unter dem Deckmantel eines weltweiten Globalismus ausschließlich die Interessen der Eliten realisieren. Die Garantie von gleichen Rechten für alle Menschen erweist sich unter dieser Perspektive als fraglich. Gerdsen verweist darauf, dass insbesondere unter dieser Perspektive angeblich stehende Begriffsapparate wie die Menschenrechte einer beständigen ideologiekritischen Hinterfragung bedürfen, um nicht selbst als Denkfalle missbraucht zu werden.

Der Beitrag Hamid Reza Yousefis 'Würgegriff der Bewusstseinsfallen - Miteinander zu reden ohne den Verstand zu verlieren' illustriert, wie die Aneignung unreflektierter Verhaltensweisen den Menschen daran hindert, ein eigenständiges Denken zu entfalten. Yousefi skizziert dies am Beispiel des Lernprozesses, in dem Heranwachsende oft nach Orientierungen aus dem eigenen Umfeld heraus denken und handeln, ohne dabei die Rechtmäßigkeit und Aufrichtigkeit ihrer Handlungen kritisch zu hinterfragen. Als wünschenswert empfundene Handlungen werden übernommen, obschon sie der Entwicklung des Menschen hin zu einer aufrichtigen und würdigen Lebensführung abträglich sind. Yousefi schlägt vor, die beiden Instrumentarien der angeborenen und erworbenen Vernunft miteinander korrespondieren zu lassen, um kognitiven Dissonanzen sowie selbstkonstruierten Scheinwahrheiten und -weltentwürfen durch reflektiertes Denken begegnen zu können.

Eine 'Überwindung von Spaltung und Feindbildern - Wie wir echte Einheit finden können' ist Ziel des Beitrags von Armin Risi. Dem Verfasser geht es primär um die Überwindung bestimmter, stehender Begriffsapparate. Mit dem Begriff der 'Einheit' geht demnach einher, diesen zugleich auch als 'Ganzheit' zu verstehen. In etlichen Formen eines Einheitsbegriffes bzw. Einheitsdenkens fehlt diese Ausrichtung, die als verbindendes Element zwischen allen Menschen sowie zwischen dem Menschen und seinem jeweiligen Glaubens- und Weltbild fungiert. Risi vertritt die Ansicht, dass eine Rückbesinnung auf diese verbindenden Elemente eine Einheit als Ganzheit wirken lassen können, die Kriege überwinden und Feindbilder abbauen kann.

Peter Orzechowski geht in seinem Beitrag 'Denkfabriken und die heimlichen Drahtzieher' davon aus, dass in der deutschen Gesellschaft ein stark ausgeprägter, verdeckt arbeitender Lobbyismus mit vorgefertigten Denkmustern und Denkrichtungen wirksam ist. Diesen vermutet er durch mediale Lenkung in Gestalt insbedondere US-amerikanischer Wirtschafts- und Politinteressen, die an einer gezielten Lenkung der Medienmeinungen, insbesondere gegen politische Feinde der USA, interessiert seien. Aus dieser Sicht heraus würden, um über eigene Herrschafts- und Absolutheitsansprüche hinwegzutäuschen, entsprechend stützende Meinungen in Denkfabriekn 'produziert'. Zusätzlich erhält die Aufrechterhaltung von Feindbildern wie etwa die von Russland und China dazu, ein freies, kritischhinterfragendes Denken zu eleminieren und das eigene Weltbild ideologisch zu rechtfertigen.

Antonio Messina untersucht in 'Identität und die Denkfalle der Selbstsucht' die vier Bewusstseinsfunktionen des Menschen, die im Denken, Fühlen, Empfinden und Intuieren wurzeln. Seiner Ansicht nach beruhen etliche Konflikte der heutigen Welt sowie Dysfunktionen in ihrer Wahrnehmung auf Störungen dieser vier Vorgänge, die den Menschen somit zu irrationalen sowie fehlgeleiteten Verhalten verführen. Am Beispiel der Corona-Pandemie verdeutlicht er, wie drastisch polarisierend unterschiedliche Wahrnehmungen ihrerseits Meinungen herausbilden, die einander aufs Schärfste bekämpfen. Zu einer Überwindung dieses Zustandes schlägt Messina eine Zuwendung zu kritischem, hinterfragend-Umschau haltenden Denken vor.

Der Beitrag 'Denken zwischen Wahrnehmung und Trugschluss' von Detlev Reinke-Martin schließt phänomenologische wie theologische Betrachtungsweisen ein und untersucht analytisch das Entstehen von Denkfallen in einer verspielten Form, die sich unmittelbar an den Leser wendet. Mit dessen Einbezug fasst Reinke-Martin acht Quellen von Denkfallen in einem 'Typenmodell der Denkfallen' zusammen, dem er seinen Entwurf eines 'Typenmodells der Identität' entgegenstellt. Er betrachtet weltpolitische Ereignisse und stellt bewusst provozierend die Frage nach den hintergründigen Interessen ihrer Akteure, deren Beantwortung er an den Leser weiterträgt.

Tim Grams Beitrag 'Denkfallen - Klug irren will gelernt sein' beleuchtet die vielschichtigen Potentiale von Irrungen und Fehlschlägen, die uns allen im alltäglichen Leben lauern. In seiner Analyse von Denkfallen analysiert Grams an mehreren Beispielen das Umschlagen einer sinnvollen Denkstrategie an einem Punkt, wo eine bewährte Denkstrategie, etwa die Induktion, zur Erstellung eines fehlerhaften Gesamteindrucks beiträgt. Mit der Analyse verschiedener Schlussverfahren zergliedert Grams weitere Denkprozesse, um ihre interne Anfälligkeit gegenüber Fehlschlüssen oder auch Verallgemeinerungen aufzuzeigen.

Gabriele Schuster-Haslinger stellt in 'Die wirkliche Plage der Menschheit' die Frage nach der Bewertung aktueller wie bisheriger, weltumfassender Krisensituationen und zeigt im Kontext der Corona-Pandemie das Potential auf, die Menschheit gesamtheitlich zu einem Neubeginn aufzufordern. Diesen sieht sie in einem gemeinsamen Eintreten für einen Weltfrieden ohne künstlich geschaffene Hierarchieverhältnisse. Ein solcher Frieden gründet auf der Wahrnehmung des Anderen als gleichberechtigten Diskussionspartner. Dieser ließe sich durch wechselseitige Achtung und aktive Förderung der positiven Eigenschaften des Menschen sowie seiner Absichten realisieren.

Insgesamt fordert der Band mit seinen teils kritisch-aufzeigenden, teils kritisch zu betrachtenden Beiträgen zu einem selbstreflektierten Denken auf, dass einerseits fundierte und faktisch-sachliche Untersuchungen, andererseits einer ebenso gründlichen Selbsthinterfragung bedarf. Ein solcher Schritt stellt zugleich vor die Herausforderung, Sachliches von Hypothetischem und Faktisches von Spekulativem zu trennen, obschon der Spielraum zwischen allen vier sich als fließend betrachten lässt. Der Band präsentiert erfahrungsbasierte Meinungen ebenso wie faktische Realzustände und lädt darüber hinaus mit spekulativen Ansätzen zu einer Erweiterung der Perspektive ein, die jedoch selbstkritisch genug sein muss, um eine Trennung zwischen bloßer Meinungspräsentation sowie fundierter Sachbezogenheit vornehmen zu können. Als überblickende Ergänzung zu den tangierten Themenbereichen sind die Beiträge als kritisches, mahnendes wie auch experimentelles Angebot zu verstehen, Denkfallen erkennen und überwinden zu können.

Matthias Langenbahn


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