Die Suchtproblematik ist weltweit ein großes Thema, da sie mit zahlreichen Problemen verknüpft ist, die zum einen die süchtige Person selbst, zum anderen aber auch ihr Umfeld und die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Daher ist das Thema Sucht in allen sozialen Bereichen präsent. Allerdings herrscht unter Fachleuten keine Einigkeit über die Ursachen und den daraus resultierenden Umgang mit der Sucht.
Hamid Reza Yousefi legt in sechs Kapiteln den Zusammenhang zwischen Sucht und Selbstachtung dar, wobei er hierbei Vergleiche zwischen Deutschland und dem Iran zieht. Im ersten Kapitel wird das methodische Vorgehen beleuchtet und dieses kritisch eingeordnet. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Ätiologie und Epidemiologie der Sucht und versucht, dem Leser ein Grundwissen an die Hand zu geben, um Sucht an sich und deren Ursachen als auch kulturelle Unterschiede, die zwischen Deutschland und dem Iran bestehen, nachvollziehen zu können. Das dritte Kapitel ist der Einstieg in die eigentliche Studie. Dargestellt werden die Ergebnisse von Interviews, wobei jeweils 50 Deutsche und 50 Iraner*innen befragt sind. Diese Ergebnisse werden am Kapitelende analysiert. Im vierten Kapitel geht es erneut darum, dem Leser ein Grundwissen an die Hand zu geben, indem moderne Therapiekonzepte der Sucht vorgestellt werden, wobei dies exemplarisch an vier Forschern erfolgt, nämlich Wilhelm Feuerlein, Dieter Ladewig, Michael Musalek und Hilarion Gottfried Petzold. Im fünften Kapitel wird schließlich das Thema aufgegriffen, das Yousefis Studie innovativ macht, nämlich der Zusammenhang zwischen Sucht und (entgleister) Selbstachtung. Hierbei schlägt der Autor einen Bogen von der Psychologie der Sehnsucht über die der Selbstachtung bis hin zu Sozialisationsstörungen. Im letzten Kapitel kommen Leiter von einschlägigen Suchteinrichtungen zu Wort, die im Zuge dieser Studie ebenfalls befragt wurden.
Im ersten Kapitel nimmt die Gestaltung des offenen Fragebogens, der den Befragten vorgelegt wird, großen Raum ein. Der Autor erklärt dies ausführlich, sowohl bezogen auf die Konstruktion des eigentlichen Bogens als auch durch Begründungen, warum die jeweiligen Fragen gewählt wurden. Weiterhin wird das methodische Vorgehen erläutert, sodass auch Leser mit wenig Vorwissen zum Thema folgen können. Dieser Fragebogen hat die Besonderheit, mit mehreren verschiedenen Ansätzen zu arbeiten, d.h. den Probanden sind nicht nur Fragen gestellt, sondern auch Satzanfänge zur Fortsetzung vorgelegt. Weiterhin werden einzelne Fragen in ähnlicher Form mehrfach gestellt, um Verfälschungen durch sozial erwünschtes Antworten zu vermeiden. Diese Art der Konstruktion verweist auf eine Konzipierung sowohl nach den wissenschaftlichen Anforderungen als auch nach den in der Praxis vorgefundenen Bedingungen.
Im zweiten Kapitel, das zugleich das umfangreichste ist, nimmt insbesondere die Frage danach, was Sucht ist, großen Raum ein. Yousefi geht auf die 'klassischen' Suchterkrankungen wie Drogen- oder Alkoholsucht und auf andere stoffliche und nichtstoffliche Abhängigkeiten ein, aber auch auf 'Süchte', die in Fachkreisen eher unter Persönlichkeitsstörungen verortet werden, wie zum Beispiel 'Herrschsucht'. Dies weist bereits auf die in Yousefis Studie vorliegende enge Verzahnung zwischen Sucht und Persönlichkeit hin. Einzelne Süchte werden ebenso beleuchtet wie die Sozialisation von insbesondere jungen Menschen und dem Kulturvergleich zwischen Deutschland und dem Iran. Hierbei werden auch spezifische Ansätze von deutschen als auch von iranischen Experten aufgenommen. Der direkte Vergleich zwischen Deutschland und dem Iran wird anschaulich in einer Tabelle dargestellt. Weiterhin enthält das Kapitel viele anschauliche Grafiken, die für Nachvollziehbarkeit sorgen. Hier lässt sich auch für Leser, die einen Überblick über Suchterkrankungen suchen, ein Mehrwert finden.
Im dritten Kapitel werden die Ergebnisse der Fragebogen ausgewertet. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede der Probanden aus Deutschland und dem Iran. Alle sind in einem ähnlichen Alter, wobei die Probanden aus Deutschland ein minimal größeres Altersspektrum (14 -64 Jahre) abdecken als die aus dem Iran (15 - 60 Jahre). Während erstere im Allgemeinen aus einigermaßen sicheren Verhältnissen stammen, bezeichnet sich die Mehrzahl der letzteren als arm. Auch Kindheitserfahrungen werden unterschiedlich bewertet. Die Motivation für den Drogenkonsum ist jedoch kulturübergreifend zu großen Teilen der Wunsch nach Realitätsflucht. Durch diese Aufstellung greift Yousefi dem fünften Kapitel vor, indem er die Motivation des Konsums in dem Feld verortet, in dem er sich mit seinem Ansatz auch bewegt, nämlich der Selbstwahrnehmung bzw. Selbstachtung. Hierduch wird deutlich, dass diese Studie aus der Praxis heraus entstanden ist bzw. Praxiserfahrungen einbezieht.
Im vierten Kapitel werden die Therapieansätze von Wilhelm Feuerlein, Dieter Ladewig, Michael Musalek und Hilarion Gottfried Petzold ausführlich vorgestellt. Alle vier Experten stellen einstimmig einen Zusammenhang zwischen Sucht und Sozialisation her, egal, ob Sozialisation als eine der Einflussgrößen auf die Sucht (Feuerlein) gesehen wird oder aber die Suchtbehandlung eine Nachsozialisation nötig macht (Petzold). Ebenfalls ist allen gemeinsam, dass sie die Entstehung der Sucht in der Person des Süchtigen verorten und darüber hinaus als einen Komplex verschiedener Ursachen und Wirkungen. Anhand der ebenfalls durch Grafiken veranschaulichten Beschreibungen zeigt Yousefi auf, dass Sucht keinesfalls eindimensional betrachtet werden darf, da sonst Ursachen und Zusammenhänge aus den Augen verloren werden.
Im fünften Kapitel wird dies erneut dadurch verdeutlicht, dass das Selbst beleuchtet wird. Die Individualität des Selbst und der Wunsch, dieses ausdrücken zu können, ist ein großer Motivator für den Menschen. Wird dieser Ausdruck unterbunden oder gestört, resultieren tiefgreifende Störungen daraus, die unter anderem den Drogenkonsum fördern oder begünstigen können. Allerdings führt Yousefi hier nicht nur Drogenabhängigkeit als mögliches Resultat, sondern auch andere Praxisbeispiele an. Als Extrembeispiel für den unbedingten Wunsch nach Individualität wird der Fall der siamesischen Zwillinge Laleh und Lasdan Bidschani angeführt, die sich 2003, trotz des Wissens um das hohe Risiko, der Operation unterzogen, die sie trennen sollte und beide im Zuge dieses Versuchs starben. Auch die Sozialisation eines Menschen, die zu positiver oder negativer Selbstachtung führen kann, wird beleuchtet. Yousefi stellt hierzu folgende These auf: "Selbstachtung ist ein Gefühl, das jeder Mensch in sich trägt. Diese Antriebsquelle umfasst die gesamte intrinsische Psychosomatik, die gesamten belebenden, aktivierenden psychischen Vorgänge oder Kräfte, die Wille, Intensität und Ausdauer unserer innerseelischen Prozesse steuern. Mit Selbstachtung ist dasjenige Gefühl gemeint, das jeder Mensch für seine eigene menschliche Würde hat." (S.306)
Im sechsten Kapitel werden Stellungnahmen dreier Experten dargestellt. Hierbei handelt es sich um Andreas Stamm, dem Leiter und Gründer der Beratungsstelle 'Die Tür' in Trier, Mohammad Javad Roozbahani, Gründer der iranischen Wohltätigkeitsorganisation 'Mehr Khavar-gostar', und Alireza Taheri, Leiter der Einrichtung 'Saraye Ehsan' in Teheran. Hier zeigt sich eine deutliche Übereinstimmung zwischen dem deutschen und den iranischen Experten. Alle sehen den Staat und die Gesellschaft stärker gefordert. Ob das Therapiewesen, wie im Iran, erst im Aufbau begriffen oder, wie in Deutschland schon länger etabliert ist, die Versorgungslücken seien die gleichen. Weiterhin stimmen alle darin überein, dass sie Sucht als Erkrankung sehen und diese auch als solche anerkannt wissen wollen, damit sie die Aufmerksamkeit erhalte, die notwendig sei, um den daraus resultierenden Problemen zu begegnen.
Im Folgenden macht Yousefi Vorschläge zur weiterführenden Forschung, um den komplexen Zusammenhängen zwischen, Selbst, Gesellschaft und Sucht Rechnung tragen zu können. Er schlägt eine stärkere Fokussierung auf die Nachsorge vor, da diese eine zentrale Bedeutung einnimmt, um Rückfälle zu verhindern. Dies sei nur möglich, wenn Betroffene nicht nach Therapieabschluss wieder in die gleiche Umgebung und die gleichen Verhaltensmuster, mit denen sie sozialisiert worden seien, zurückfallen.
Es wird deutlich, dass Yousefi Sucht untrennbar mit Selbstachtung verbunden sieht. Sucht ermöglicht dem Menschen eine künstliche Selbstauf- oder abwertung, wodurch es ihm ermöglicht wird, gemäß seiner Sozialisierung zu leben. Dieser Zusammenhang, der als zentral für die gesamte Suchtproblematik gesehen wird, hebt Yousefis Studie von anderen Suchtstudien ab, in denen Selbstachtung eine eher untergeordnete Rolle spielt oder nur im Einzelnen verortet wird.
Insgesamt ist die Studie allgemeinverständlich, allerdings ist es notwendig, Grundkenntnisse sowohl in wissenschaftlichen Arbeiten als auch in Bezug auf Suchterkrankungen zu haben, und die teils sehr kurz angerissenen Themen bzw. Standpunkte einordnen zu können. Von dieser Studie können bereits Studierende der Psychologie bzw. der Sozialen Arbeit profitieren, ebenso wie in der Praxis der Suchtbehandlung bzw. -beratung Tätigen.
Claudia Mayer
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