Benjamin Stello

Kontroverse Debatten um die Vermittlung
von Geschichte in Schleswig-Holstein

Eine Theorie des Protests

bibliothemata, Band 31

Rezension


Lehrpläne - eine altmodische, aber bislang unübertroffene Bezeichnung - werden in geschichtsdidaktischen Untersuchungen oftmals nur wenig, und wenn ja, dann eher sehr kritisch betrachtet. Eine Ursache liegt in deren Charakter als Praxiskompromiss: Hier muss konkret genannt werden, was in der wenigen zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit an den Schulen vermittelt werden soll. Ein in der Praxis funktionierender Lehrplan basiert daher - zugespitzt formuliert- häufig auf unlogischen Verteilungen, bewussten Lücken und rücksichtsloser Vereinfachung. Interessanter ist, dass die wenigen Lehrpläne, die auf breitere Zustimmung in der Didaktik stoßen, in der Praxis als eher unanwendbar gelten. Vermutlich ist dieser Widerspruch nicht aufzuheben.

Umso erfreulicher ist es, dass mit der vorliegenden Dissertation von Benjamin Stello eine Nahaufnahme auf den schwierigen und kontroversen Prozess einer Lehrplanimplementation vorgenommen wird. Am Beispiel der "Fachanforderungen Geschichte" (so werden die Lehrpläne in Schleswig-Holstein offensichtlich genannt) schreibt Stello eine Geschichte der Rückmeldungen, insbesondere des Protestes, in Schleswig-Holstein, blickt dabei aber auch vergleichend auf andere Bundesländer wie Berlin-Brandenburg oder Niedersachsen oder sogar in das benachbarte Ausland (die Schweiz).

Zentrale Grundlage für die Untersuchung sind die schriftlichen Rückmeldungen der Schulen (in Schleswig-Holstein in der Regel Gymnasien und Gemeinschaftsschulen) sowie der beiden Universitäten und der Verbände wie dem Landesverband des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands. Insgesamt haben nur ca. 12 Prozent der Gymnasien überhaupt eine schriftliche Rückmeldung gegeben, daher ist es wenig überraschend, dass die Rückmeldungen der Schulen überwiegend Kritik und Änderungswünsche enthalten. Auf den Seiten 170-173 hat Stello einmal das Spektrum an Kritik in einer beeindruckenden Graphik gezeichnet.

Das Spannende ist, dass es nun weniger - und da sind wir wieder bei meiner Eingangsbemerkung - um eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen geht (hier ist Stello als Mitautor des Lehrplans eher befangen), sondern um eine Untersuchung der Motive, Hintergründe und Formen der Kritik und damit zur Entwicklung einer "Theorie des Protests". Benjamin Stello führt diesen insbesondere auf berufsbezogene Überzeugungen von Geschichtslehrern und auf Neuerungsprozesse in den Schulen zurück (S. 326 ff.). Neben einer "zeitlichen Theorie" mit den einzelnen Schritten von der Lehrplanerstellung bis hin zu den "Ergebnissen der Proteste und Umsetzung" (S. 313) ist die inhaltliche Theorie des Protestes interessant. Stello benennt fünf Punkte: Die "inhaltliche Ablehnung der Kompetenzorientierung", die Förderung nach einem grundsätzlich chronologisch-genetisch strukturierten Geschichtsunterricht", "die Forderung nach festen Vorgaben der zu unterrichtenden Sachinhalte", "die formale Akzeptanz der Urteilsbildung bei gleichzeitiger Betonung der Wichtigkeit des Sachwissens" und die Ablehnung fachdidaktisch-universitärer Positionen bei Behauptung einer wissenschaftlichen Absicherung der eigenen Thesen" (S. 325). Nicht überraschend ist bei diesen Ergebnissen die eher konservative Haltung der ausgewerteten Rückmeldungen: Die Kollegien möchten an dem bestehenden Modell festhalten und wünschen sich daher im Grunde eine Bestätigung der bisher unterrichteten lnhalte. Überraschend ist, dass die Chancen in einem offeneren Modell von Kompetenzorientierung und Urteilsbildung nicht erkannt werden: Für die einzelne Lehrkraft öffnen sich hier Freiheitsräume außerhalb enger Vorgaben.

lm Grunde bestätigt Benjamin Stello in seiner quellen- und faktengesättigten Untersuchung ein typisch soziales Verhalten: Es gibt Gruppen, die lieber in festen Strukturen unter engen Vorgaben arbeiten, die sie gewohnt sind, als etwas Neues auszuprobieren, und Freiheiten anzunehmen. Wir finden entsprechendes Verhalten in vielen Bereichen der politischen Diskussion und in vielen Fällen bilden diese Gruppen die Mehrheit. Das lässt sich von den Rückmeldungen nicht behaupten: Deren Zahl zeigt dann doch eine klare Minderheitenposition.

Die vorliegende Untersuchung gehört in das (analoge oder digitale) Regal aller an der Entwicklung und lmplementierung neuer Lehrpläne Beteiligter. Sie zeigt an konkreten Beispielen, welche Schwierigkeiten und Widerstände es (immer) zu überwinden gilt, und gibt somit auch klare Impulse, was zumindest zur Prävention getan werden könnte. Für nicht an diesen Prozessen Beteiligte bietet die Arbeit einen faszinierenden Einblick in die Wirklichkeit der Lehrplaneinführung in einem durchaus exemplarischen Flächenland. Dem Verfasser ist für diese Fleißarbeit zu danken, die ihren besonderen Wert in der Verbindung von vielen Fakten und Grundlagen mit einer klaren theoretischen Ausrichtung hat.

Helge Schröder
Hamburg


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