Lehrpläne - eine altmodische, aber bislang unübertroffene Bezeichnung - werden in geschichtsdidaktischen Untersuchungen oftmals
nur wenig, und wenn ja, dann eher sehr kritisch betrachtet. Eine Ursache liegt in deren Charakter als Praxiskompromiss: Hier
muss konkret genannt werden, was in der wenigen zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit an den Schulen vermittelt werden soll.
Ein in der Praxis funktionierender Lehrplan basiert daher - zugespitzt formuliert- häufig auf unlogischen Verteilungen, bewussten
Lücken und rücksichtsloser Vereinfachung. Interessanter ist, dass die wenigen Lehrpläne, die auf breitere Zustimmung in der
Didaktik stoßen, in der Praxis als eher unanwendbar gelten. Vermutlich ist dieser Widerspruch nicht aufzuheben. Umso erfreulicher ist es, dass mit der vorliegenden Dissertation von Benjamin Stello eine Nahaufnahme auf den schwierigen und
kontroversen Prozess einer Lehrplanimplementation vorgenommen wird. Am Beispiel der "Fachanforderungen Geschichte" (so werden die Lehrpläne
in Schleswig-Holstein offensichtlich genannt) schreibt Stello eine Geschichte der Rückmeldungen, insbesondere des Protestes, in
Schleswig-Holstein, blickt dabei aber auch vergleichend auf andere Bundesländer wie Berlin-Brandenburg oder Niedersachsen oder sogar in das
benachbarte Ausland (die Schweiz). Zentrale Grundlage für die Untersuchung sind die schriftlichen Rückmeldungen der Schulen (in Schleswig-Holstein in der Regel Gymnasien
und Gemeinschaftsschulen) sowie der beiden Universitäten und der Verbände wie dem Landesverband des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands.
Insgesamt haben nur ca. 12 Prozent der Gymnasien überhaupt eine schriftliche Rückmeldung gegeben, daher ist es wenig überraschend, dass die
Rückmeldungen der Schulen überwiegend Kritik und Änderungswünsche enthalten. Auf den Seiten 170-173 hat Stello einmal das Spektrum an Kritik
in einer beeindruckenden Graphik gezeichnet. Das Spannende ist, dass es nun weniger - und da sind wir wieder bei meiner Eingangsbemerkung - um eine geschichtsdidaktische Auseinandersetzung
mit den Stellungnahmen geht (hier ist Stello als Mitautor des Lehrplans eher befangen), sondern um eine Untersuchung der Motive, Hintergründe
und Formen der Kritik und damit zur Entwicklung einer "Theorie des Protests". Benjamin Stello führt diesen insbesondere auf berufsbezogene
Überzeugungen von Geschichtslehrern und auf Neuerungsprozesse in den Schulen zurück (S. 326 ff.). Neben einer "zeitlichen Theorie" mit den
einzelnen Schritten von der Lehrplanerstellung bis hin zu den "Ergebnissen der Proteste und Umsetzung" (S. 313) ist die inhaltliche Theorie
des Protestes interessant. Stello benennt fünf Punkte: Die "inhaltliche Ablehnung der Kompetenzorientierung", die Förderung nach einem
grundsätzlich chronologisch-genetisch strukturierten Geschichtsunterricht", "die Forderung nach festen Vorgaben der zu unterrichtenden
Sachinhalte", "die formale Akzeptanz der Urteilsbildung bei gleichzeitiger Betonung der Wichtigkeit des Sachwissens" und die Ablehnung
fachdidaktisch-universitärer Positionen bei Behauptung einer wissenschaftlichen Absicherung der eigenen Thesen" (S. 325). Nicht überraschend ist
bei diesen Ergebnissen die eher konservative Haltung der ausgewerteten Rückmeldungen: Die Kollegien möchten an dem bestehenden Modell
festhalten und wünschen sich daher im Grunde eine Bestätigung der bisher unterrichteten lnhalte. Überraschend ist, dass die Chancen
in einem offeneren Modell von Kompetenzorientierung und Urteilsbildung nicht erkannt werden: Für die einzelne Lehrkraft öffnen sich hier
Freiheitsräume außerhalb enger Vorgaben. lm Grunde bestätigt Benjamin Stello in seiner quellen- und faktengesättigten Untersuchung ein typisch soziales Verhalten: Es gibt Gruppen,
die lieber in festen Strukturen unter engen Vorgaben arbeiten, die sie gewohnt sind, als etwas Neues auszuprobieren, und Freiheiten anzunehmen.
Wir finden entsprechendes Verhalten in vielen Bereichen der politischen Diskussion und in vielen Fällen bilden diese Gruppen die Mehrheit.
Das lässt sich von den Rückmeldungen nicht behaupten: Deren Zahl zeigt dann doch eine klare Minderheitenposition. Die vorliegende Untersuchung gehört in das (analoge oder digitale) Regal aller an der Entwicklung und lmplementierung neuer Lehrpläne
Beteiligter. Sie zeigt an konkreten Beispielen, welche Schwierigkeiten und Widerstände es (immer) zu überwinden gilt, und gibt somit auch
klare Impulse, was zumindest zur Prävention getan werden könnte. Für nicht an diesen Prozessen Beteiligte bietet die Arbeit einen faszinierenden
Einblick in die Wirklichkeit der Lehrplaneinführung in einem durchaus exemplarischen Flächenland. Dem Verfasser ist für diese Fleißarbeit zu
danken, die ihren besonderen Wert in der Verbindung von vielen Fakten und Grundlagen mit einer klaren theoretischen Ausrichtung hat. Helge Schröder
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