Detlev Reinke-Martin

Feldweg:

Die Spur ins Ungedachte

Rezension


Mit seinem Werk "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" legt und hinterlegt Detlev Reinke-Martin Spuren, die zwischen musikalischen und geistigen Fugen - zwischen Bach und Heidegger - schweifen, und die mit dem metaphorischen wie auch wortwörtlichem Abgehen der Wege neue Räume eröffnen, neue Assoziationen entbergen und somit zwischen dem epikureischen Lustgarten und der Verweise auf aktuelle, filmische Blockbuster dem Lesenden ein buntes Sammelsurium an Kuriositäten an nur vermeintlich Bekanntem und noch einmal neu zu entdeckenden und an ganz Fremden, doch plötzlich vertraut Werdenden bieten.

Dabei fällt auf, dass inhaltliche Kontexte zwar stärker in der antiken Philosophie wie auch in der Heideggerschen Phänomenologie verortet sind, das methodische Vorgehen und die Themen jedoch aktueller nicht sein könnten: So bedient sich Reinke-Martin im Aufzeichnen seiner Gedankengänge mehrerer Aufschreibesysteme - dem Buch liegt nicht nur eine CD bei, vielmehr ergeben die Texte sorgfältig zusammengestellte Folgen aus Notenschriften, Abbildungen, szenischen Dialogen zwischen den fiktiven Figuren Poios und Zygomacheos, Festival- und Programmauszügen, Flyern von Orgelkonzerten, Briefauszügen und vielem mehr. Seine Zugänge und Codierungen von selbst Erlebtem und neu Zusammengedachtem bieten also vielmehr als die erwartbare mediale Herangehensweise in der Form eines Fließtextes.

Die in drei Phasen gegliederte Arbeit läßt den Lesenden auf vielfältige Weise Spuren in noch Ungedachtes entdecken: In der "nicht-substantiierten Phase, der individualisierten und Jemeinigen Phase" begibt sich Reinke-Martin immer wieder auf neue Feldwege, Aussichten und Abzweigungen von vermeintlich Bekanntem. Phänomenologisch treibt er seine Analyse voran, indem er eine in Bachs musikalischen Werken verborgene Symbolsprache encodiert und diese mit dem Dialog der Heideggeschen Rede in "Sein und Zeit" synthetisiert.

Diese phänomenologische Analyse wird besonders in der Zusammenschau des als Trio angelegten Chorals "Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ" - BWV 639 aus dem Orgelbüchlein von Bach der paraphrasierenden Oberstimme monodischer Grundzüge leichter beschwingter Weise im Gesang und auch in der Darstellung zugeordnet; die Mittelstimme stellt er als klagende, flehende, bittende Stimme dar, die jedoch auch voller Selbstbewusstsein vor Gott fordernd auftritt. Sie ist hier als Momentum kein musikalisches Beiwerk, sondern als eigenständige Stimme vor Gott zu verstehen. So tritt der Bass mutig und mit ein wenig Trotz vor den Thron Gottes und fordert das Recht auf sein Dasein ein. Detlev Reinke-Martin erinnert an die Ausgelassenheit und Unbedarftheit antiker Kultur und fordert die Lesenden auf, mitzuspielen, miteinander zu musizieren. Eigene Erlebnisse vermittelt er durch neu gewählte Bühnenkulissen: Neue musikalische, theologische und philosophische Szenerien entstehen aus ihm bekannten Lebenswelten. So liegt das Ungedachte vor allem im Mut des Autors begründet, eine besondere Nähe zu erlebten Ereignissen herzustellen wie beispielsweise das Verzieren der hölzernen Abblendlatte vor der Orgeltischbeleuchtung, und diese Ereignisse in einen neuen Zusammenhang gestellt, noch einmal neu entschlüsseln zu können.

In einem ersten Schritt lädt Detlev Reinke-Martin chronologisch vorgehend dazu ein, Lebenswege mitzubeschreiten. Er stellt beispielsweise verschiedene Orgeln vor, hebt sozusagen das Medium und somit auch seine Beschaffenheit, mit dem die musikalischen Erlebnisse erst möglich werden, hervor. Auch läßt Reinke-Martin seine Begeisterung für die epikureische Lehre aufleuchten, indem er den Gedanken und die Vorstellung eines Lebens des Genusses in einem Garten als einen Lebensort, ganz im Sinne Epikurs, entwirft. Wahrheitsfindung, Befriedung der Seele, Weg in das Offene und Ewige einerseits kennzeichnen die Spur, die er verfolgt. Dabei legt Reinke-Martin in der "Nicht substantiierten Phase" Mosaiksteine eines Bildes vor. Es handelt sich um ein Bild, das er auf der "Spur ins Ungedachte", "ins Unerwartete" verschiedener Lebensphasen immer wieder aufzusuchen und zu erkennen versucht - auch hier beweist Reinke-Martin auf gekonnte Weise seine Nähe zu medienphilosophischen Themen, gewissermaßen mit allen Sinnen verfolgt er die Spuren in ungekanntes Terrain.

Auf diese Weise kommt er in einem weiteren Schritt mit der Philosophie Martin Heideggers ins Gespräch. Dieses Portfolio stellt ein Novum dar im Zusammenklang von Bachs Choral und der theologischen Ausweisung. Vorab schon reflektiert Reinke-Martin Heideggers Feldweg-Gespräch "Der Lehrer trifft den Türmer" gleichsam im Rückgriff auf das Autobiografische. Die Figuren der Erzählungen und Beschreibungen ragen dabei aus den Buchseiten heraus, stellen sich vor, erzählen, spielen gleichsam das geschriebene Wort szenisch nach. Die Erlebnisse, das Gespräch im Turm des Türmers auf der Treppe hinauf zum ersehnten Blick auf "das Bild" werden zu einem symboldidaktischen Hineinnehmen ins Gespräch der theologischen-philosophischen-musikalischen Bühne. Er lädt mithilfe eines fiktiven hellenistischen Dialoges in dieses Amphitheater am Busen Hellas ein. Detlev Reinke-Martin traut sich und "reißt aus" mit seiner Studie, indem er Inszenierungen setzt, den Leser und Hörer einlädt, in sein Theater staunend zu kommen, den Vorhang in mehreren Akten aufzieht, musikalische Wagnisse anbietet, eine Kulisse für das Staunen und Raunen aufbaut - und gerade im Augenblick des Staunens könnte die Studie philosophischer nicht sein.

Im ersten Teil der "nicht substantiierten Phase" darf der Lesende und auch der Zuschauer eine Sammlung diverser Lebensstationen an Orgeln, die der Autor nach seinen klanglichen Vorstellungen geschaffen oder restauriert hat, erwarten. Diese Stationen reflektiert Reinke-Martin lebensgeschichtlich, legt Mosaiksteine für das ersehnte Bild in Anlehnung an Heideggers Feldweggespräch "Der Lehrer trifft den Türmer". Dieses Gespräch wird zum reflexiven Horizont für seinen eigenen Lebensweg auf Lebens-Feldern, indem er es nicht nur im Medium der Schrift, sondern auch virtuell und akustisch erschließen kann. Der Garten des Epikurs, für den er sich philosophisch begeistert, bietet die Kulisse dieser Reflexion.

Im zweiten Teil, der "individualisierte Phase", verdichtet der Autor die Theologie Bachs als zweite Symbolsprache hinter seinem musikalischen Schaffen in der Reflexion mit Heideggers Philosophie in wesentlichen Auszügen. Schlussendlich werden beide auf die "Wippschaukel der Genien" gesetzt, sich dialektisch spielerisch bereichernd und eben nicht mehr im Widerspruch zueinanderstehend. Eine neue Spur, - bisher noch ungedacht; noch nicht gedacht - gilt es, zu erkunden. Als Krönung seiner Studie lässt Reinke-Martin vor Publikum seine Erkenntnisse zum Choral "Ich ruf zu dir Herr Jesu Christ", den er zum Schlusschoral der Johannespassion "Ach Herr, lass dein lieb Engelein" alliteriert, in einer einmaligen Partitur von einem Integral-Yogi tänzerisch während seines Orgelspiels interpretieren. Es folgt die "Jemeinige Phase", in der Detlev Reinke-Martin mithilfe eines fiktiven hellenistischen Dialoges sich zudem mit der Musikalität des Philosophen, Heidegger-Kenners und Interpreten Harald Seubert auseinandersetzt. Beide, in freundschaftlicher Verbindung stehend, begegnen der Kirchenmusik vor allem als Hörende. Reinke-Martin riskiert viel, wie auch schon sein großes Vorbild Johann Sebastian Bach, und schafft mit einer im Medium der Schrift verfassten Coda einen "schlagartigen Nachklang".

Im Nachwort des Buchs "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" von Detlev Reinke-Martin stellt der Philosoph und psychologische Kommunikationswissenschaftler Hamid Reza Yousefi den Autor resümierend als einen "spielerischen Theologen" (S. 310) vor. Die Heideggerschen Grundworte "Idemität" und "Jemeinigkeit" laden immer wieder zu neuen Codierungen und Encodierungen ein. So definiert Reinke-Martin diese Begriffe noch einmal neu für sich und übersetzt sie in das "Eigene auf dem Weg, der Spur zum Selbst". Hierbei gestaltet er geradezu virtuell als "persona activa" einerseits und andererseits als "persona performativa" seine Übersetzungen formieren erste Spuren, die er für den Lesenden legt, um Erlebtes und Erdachtes kontextlich zu begreifen. In diesem Sinne erschließt sich auch das Geleitwort des Philosophen und Religionswissenschaftlers, Harald Seubert, zur präludierenden und in sich fulminant erscheinenden Dissertation: "Dieses Buch beschreibt immer auch zwischen den Zeilen, hoch reflektiert, den biographischen Weg eines hochbegabten und gebildeten Musikers, Theologen und Religionspädagogen, der wurde, was er ist, und der auf dem Weg auch erst lernte, wer er war." (S. 9)

So wird verständlich, dass Detlev Reinke-Martin mit der "Spur ins Ungedachte", die ihn über Feldwege und Schleichwege führt, das Drehbuch seines Lebens noch einmal auf neuer, philosophisch-musikalischer Bühne zur Aufführung bringt und zu diesem neue mediale Kulissen kreiert: das Eigene so zum Anderen kommen lässt. Unbekümmert, spielerisch und mit einer Portion Wagemut nimmt er den Leser mit hinein in seine Lebenskomposition. So ist nicht nur die methodische Herangehensweise der diversen medialen Aufschreibesysteme ein Wagnis, auch das Thema der "Spur" lässt an aktuelles Denken wie beispielsweise an die Philosophie der "différance" (S. 168) von Jacques Derrida anschließen. Die Nähe eines Derridas zu Heidegger, der bereits Begriffe der Konstruktion und Destruktion methodisch verschränkt und aus denen Derrida seine Methodologie des Dekonstruktivismus entwickelt, ist unverkennbar. So entschlüsselt der Autor mit Hilfe der Dekonstruktion die in Bachs Choralspiel aufgegriffene erste Strophe aus Agricolas Lied und verweist auf die hinterlassene Spur der weiteren vier, nicht bearbeiteten Strophen (S.168). So bleiben vor allem offene, begehbare Räume neuer gedanklicher Synthesen, Gesagtes schließt sich noch Ungesagtem an, eine endlose Signifikantenkette, eine endlose Kette von neuen Bedeutungen und Deutungen zu Ereignissen und Erlebtem lässt sich auch bei Detlev Reinke-Martin finden.

Wer den "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" von Detlev Reinke-Martin liest, begibt sich auf eine Reise in ein von wirbelnden Lebensklängen erzählendes Geschehen, das aufrüttelt, bewegt und zum stundenlangen Philosophieren einlädt. Ein Theater des Lebens, ein Lustgarten medialer Ver- und Entschlüsselungen, eine Spur aus dem Eigenen hinaus in fremde, verheißende Landschaften. Dieses gewagte Unternehmen abenteuerlicher Gedankengänge und musikalischer Ausflüge ist unbedingt zu empfehlen!

Kristina Schippling, Berlin


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