Detlev Reinke-Martin

Feldweg:

Die Spur ins Ungedachte

Rezension


Mit seinem Werk "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" legt und hinterlegt Detlev Reinke-Martin Spuren, die zwischen musikalischen und geistigen Fugen - zwischen Bach und Heidegger - schweifen, und die mit dem metaphorischen wie auch wortwörtlichem Abgehen der Wege neue Räume eröffnen, neue Assoziationen entbergen und somit zwischen dem epikureischen Lustgarten und der Verweise auf aktuelle, filmische Blockbuster dem Lesenden ein buntes Sammelsurium an Ungewöhnlichem und Unerwartetem, an nur vermeintlich Bekanntem und noch einmal neu zu entdeckenden und an ganz Fremden, doch plötzlich vertraut Werdenden bieten.

Dabei fällt auf, dass inhaltliche Kontexte zwar stärker in der antiken Philosophie wie auch in der Heideggerschen Phänomenologie verortet sind, das methodische Vorgehen und die Themen jedoch aktueller nicht sein könnten: So bedient sich Reinke-Martin im Aufzeichnen seiner Gedankengänge mehrerer Aufschreibesysteme - dem Buch liegt nicht nur eine CD bei, vielmehr ergeben die Texte sorgfältig zusammengestellte Folgen aus Notenschriften, Abbildungen, szenischen Dialogen zwischen den fiktiven Figuren Poios und Zygomacheos, Festival- und Programmauszügen, Flyern von Orgelkonzerten, Briefauszügen und vielem mehr. Seine Zugänge und Codierungen von selbst Erlebtem und neu Zusammengedachtem bieten also vielmehr als die erwartbare mediale Herangehensweise in der Form eines Fließtextes.

Den drei Teilen seines Buchs stellt Reinke-Martin eine Gartenrede voran und greift das metaphorische Bild des Gartens auf, um an die epikureische Philosophie anzuschließen. So wird der Garten Sinnbild für den Rückzug ins Lustvolle, ins Lebendige, in die kultivierte Natur. Doch Reinke-Martin verbleibt nicht in der Antike. Die Garten-Metapher wird geschickt in eigene Erlebnisse und Erinnerungen des Autors verwoben und somit fassbar über die Zeit hinweg ins heutige Dasein. Der Garten wird Schauplatz zum einen in der Erinnerung an die Großeltern zum anderen als Rosengarten des Ehemanns Olaf, dem das Buch auch gewidmet ist - beim Motiv des Rosengartens ist die Anspielung auf die mittelalterliche Minne nicht zu übersehen. Aber nicht nur vom eigenen Erleben ausgehend wird der Bogen von der Antike bis ins Heute gespannt: Auch Michel Foucaults "culture des soi" fließt in die Betrachtungen mit ein. Der Rückgriff auf Foucault ist hier passend gewählt, bezieht er sich doch gerade in seinem Spätwerk "Die Sorge um sich" auf die antike Tradition und ihren Anspruch, das Leben als ein Kunstwerk frei zu gestalten, dem "eigenen Leben eine bestimmte Form zu geben" Leben und Kunstwerk, Philosophisches wie auch Poetisches fließen bei Detlev Reinke-Martin im Schauplatz des Gartens zusammen, gekonnt bündelt der Autor das "große Ganze" in dieser einzigen Metapher und lädt als Auftakt zum Weiterlesen ein.

Die Arbeit gliedert sich anschließend in drei Phasen bzw. in drei Teile: "die nicht-substantiierte Phase, die individualisierte und die Jemeinige Phase". In der "nicht-substantiierten Phase" knüpft der Autor an seine frühe Lebensphase an, bei der er sich mit Fremdbestimmungen, Akzidentien konfrontiert sieht, die seinem eigentlichen Wesen nicht entsprechen und die gewissermaßen seine ‚Essenz' als Person, seine ‚Substanz' vielmehr verdecken. Der Autor erzählt hier aus seiner Erinnerung, wie er sich auf den (Feld-)Weg seines Lebens macht, wie er die Treppe im Turm hinaufsteigt, Stufe für Stufe. So beschreiben diese drei Lebensphasen die Intensität des Begehens dieser Treppen im Turmbild Heideggers "Der Lehrer trifft den Türmer". Dabei ist die Treppe nach oben nicht als geradliniger Gang in eine Richtung zu verstehen, vielmehr fällt der Ich-Erzähler hin und wieder auch zurück, um erneut die Stufen zu erklimmen. Interessanterweise ist auch Reinke-Martin selbst als Lehrer tätig, was das gewählte Bild umso treffender erscheinen lässt. So lädt das Buch mit CD den Lesenden und auch den Hörenden auf vielfältige Weise ein, Spuren in noch Ungedachtes zu entdecken: Reinke-Martin begibt sich immer wieder auf neue Feldwege, Aussichten und Abzweigungen von vermeintlich Bekanntem. Phänomenologisch treibt er seine Analyse voran, indem er eine in Bachs musikalischen Werken verborgene Symbolsprache encodiert und diese mit dem Dialog der Heideggerschen Rede in "Sein und Zeit" synthetisiert.

Diese phänomenologische Analyse wird besonders in der Zusammenschau des als Trio angelegten Chorals "Ich ruf zu dir, Herr Jesus Christ" - BWV 639 aus dem Orgelbüchlein von Bach der paraphrasierenden Oberstimme monodischer Grundzüge leichter beschwingter Weise im Gesang und auch in der Darstellung zugeordnet; die Mittelstimme stellt er als klagende, flehende, bittende Stimme dar, die jedoch auch voller Selbstbewusstsein vor Gott fordernd auftritt. Sie ist hier als Momentum kein musikalisches Beiwerk, sondern als eigenständige Stimme vor Gott zu verstehen. So tritt der Bass mutig und mit ein wenig Trotz vor den Thron Gottes und fordert das Recht auf sein Dasein ein. Detlev Reinke-Martin erinnert mit dem Motiv des Gartens an die Ausgelassenheit und Unbedarftheit antiker Kultur und fordert die Lesenden auf, mitzuspielen, miteinander zu musizieren. Eigene Erlebnisse vermittelt er durch neu gewählte Bühnenkulissen: Neue musikalische, theologische und philosophische Szenerien entstehen aus ihm bekannten Lebenswelten. So liegt das Ungedachte vor allem im Mut des Autors begründet, eine besondere Nähe zu erlebten Ereignissen herzustellen wie beispielsweise das Verzieren der hölzernen Abblendlatte vor der Orgeltischbeleuchtung, und diese Ereignisse in einen neuen Zusammenhang gestellt, noch einmal neu entschlüsseln zu können.

In einem ersten Schritt lädt Detlev Reinke-Martin chronologisch vorgehend dazu ein, Lebenswege mitzubeschreiten. Er stellt beispielsweise verschiedene Orgeln vor, hebt sozusagen das Medium und somit auch seine Beschaffenheit, mit dem die musikalischen Erlebnisse erst möglich werden, hervor. Wahrheitsfindung, Befriedung der Seele, Weg in das Offene und Ewige kennzeichnen die Spur, die er verfolgt. Dabei legt Reinke-Martin in der "Nicht substantiierten Phase" Mosaiksteine eines Bildes vor. Es handelt sich um ein Bild, das er auf der "Spur ins Ungedachte", "ins Unerwartete" verschiedener Lebensphasen immer wieder aufzusuchen und zu erkennen versucht - auch hier beweist Reinke-Martin auf gekonnte Weise seine Nähe zu medienphilosophischen Themen, gewissermaßen mit allen Sinnen verfolgt er die Spuren in ungekanntes Terrain.

Auf diese Weise kommt er in einem weiteren Schritt mit der Philosophie Martin Heideggers ins Gespräch. Dieses Portfolio stellt ein Novum dar im Zusammenklang von Bachs Choral und der theologischen Ausweisung. Vorab schon reflektiert Reinke-Martin Heideggers Feldweg-Gespräch "Der Lehrer trifft den Türmer" gleichsam im Rückgriff auf das Autobiografische. Die Figuren der Erzählungen und Beschreibungen ragen dabei aus den Buchseiten heraus, stellen sich vor, erzählen, spielen gleichsam das geschriebene Wort szenisch nach. Die Erlebnisse, das Gespräch im Turm des Türmers auf der Treppe hinauf zum ersehnten Blick auf "das Bild" werden zu einem symboldidaktischen Hineinnehmen ins Gespräch der theologischen-philosophischen-musikalischen Bühne. Er lädt mithilfe eines fiktiven hellenistischen Dialoges in dieses Amphitheater am Busen Hellas ein. Detlev Reinke-Martin traut sich und "reißt aus" mit seiner Studie, indem er Inszenierungen setzt, den Leser und Hörer einlädt, in sein Theater staunend zu kommen, den Vorhang in mehreren Akten aufzieht, musikalische Wagnisse anbietet, eine Kulisse für das Staunen und Raunen aufbaut - und gerade im Augenblick des Staunens könnte die Studie philosophischer nicht sein.

Im ersten Teil der "nicht substantiierten Phase" darf der Lesende und auch der Zuschauer eine Sammlung diverser Lebensstationen an Orgeln, die der Autor nach seinen klanglichen Vorstellungen geschaffen oder restauriert hat, erwarten. Diese Stationen reflektiert Reinke-Martin lebensgeschichtlich, legt Mosaiksteine für das ersehnte Bild in Anlehnung an Heideggers Feldweggespräch "Der Lehrer trifft den Türmer". Dieses Gespräch wird zum reflexiven Horizont für seinen eigenen Lebensweg auf Lebens-Feldern, indem er es nicht nur im Medium der Schrift, sondern auch virtuell und akustisch erschließen kann. Der Garten des Epikurs, für den er sich philosophisch begeistert, bietet die Kulisse dieser Reflexion.

Der zweite Teil, die "individualisierte Phase", deutet auf die vom Autor ergriffene Möglichkeit hin, sein Inneres auch ausleben zu dürfen, als Individuum im eigenen Dasein hervorscheinen zu können. Hier verdichtet der Autor die Theologie Bachs als zweite Symbolsprache hinter seinem musikalischen Schaffen in der Reflexion mit Heideggers Philosophie in wesentlichen Auszügen. Schlussendlich werden beide auf die "Wippschaukel der Genien" gesetzt, sich dialektisch spielerisch bereichernd und eben nicht mehr im Widerspruch zueinanderstehend. Eine neue Spur, - bisher noch ungedacht; noch nicht gedacht - gilt es, zu erkunden. Als Krönung seiner Studie lässt Reinke-Martin vor Publikum seine Erkenntnisse zum Choral "Ich ruf zu dir Herr Jesu Christ", den er zum Schlusschoral der Johannespassion "Ach Herr, lass dein lieb Engelein" alliteriert, in einer einmaligen Partitur von einem Integral-Yogi tänzerisch während seines Orgelspiels interpretieren. Der Choral begleitet ihn ein Leben lang. In vielen Variationen, Szenerien und unterschiedlichen konzertanten Formaten hat Detlev Reinke-Martin ihn bisher erforscht und einem Publikum vorgestellt. In dem iterativen Beschreiten, dem in die Tiefe dringen und immer wieder neu entdecken, ist der Autor aktueller denn je. Auch Jacques Derrida beschreibt das Moment der Wiederholung nicht als eine bloße repetitio, sondern nutzt die Bedeutung des lateinischen Ursprungs des Wortes "iter" - zu übersetzen mit "von neuem" oder noch weiter zurückreichend abzuleiten aus dem Sanskrit "anders . Jede Wiederholung bringt immer auch etwas Neues und Anderes hervor, bildet eine Variation zum Vorangegangenen. Detlev Reinke-Martin weiß um dieses entstehende "Mehr" in der Wiederholung und so kommt er in den Bewegungen seines Lebens immer wieder auf Bachs Choral "Ich ruf zu dir Herr Jesu Christ" zurück, kann immer wieder Neues entdecken in diesem, in ihm neue Bedeutungen finden bzw. ihn selbst neu ausdeuten.

Es folgt die "Jemeinige Phase", in der Detlev Reinke-Martin mithilfe eines fiktiven hellenistischen Dialoges sich zudem mit der Musikalität des Philosophen, Heidegger-Kenners und Interpreten Harald Seubert auseinandersetzt. Beide, in freundschaftlicher Verbindung stehend, begegnen der Kirchenmusik vor allem als Hörende. Reinke-Martin riskiert viel, wie auch schon sein großes Vorbild Johann Sebastian Bach, und schafft mit einer im Medium der Schrift verfassten Coda einen "schlagartigen Nachklang". Ein Fazit wird hier nicht präsentiert. Vielmehr verweist der letzte Teil des Buchs ins Offene, lädt zu Theater und spielerischen Formen ein. Reinke-Martin inszeniert den Dialog zwischen Poios und Zygomacheos, wobei er in der Figur des Poios selbst zur Sprache kommt und den Namen der Figur von der griechischen Frage nach dem Wie - wie beschaffen - ableitet. Antwort gibt Zygomacheos, auf das griechische Wort "zygomacheo" sich beziehend - übersetzt mit "zaudern, kritisch fragen". In diese Dialoge, die ihre Figuren vom Amphitheater hinauf zum Berg, ins Freie und Offene, geleiten, fließen aktuelle Schriftwerke von Harald Seubert mit ein. In dem Sinne verweist der "Jemeinige" Teil des Buchs zum einen auf Heidegger, da der Begriff aus den Texten Heideggers entnommen ist, und daran anschließend auf Harald Seuberts Schriften, zum anderen aber auch auf den Autor selbst in Auseinandersetzung mit seiner Wirklichkeit. Die Form eines theatralen Dialogs führt von der Nähe und Innenschau des Ich-Erzählers weg und dabei hin zu der von außen betrachteten Figur Poios, die das Gespräch mit Zygomacheos sucht. Nicht nur der Weg hinauf zum Berg verweist somit nach draußen ins Offene, auch methodisch-kunstvoll wird hier die distanzierte Form des Dialogs als einer Außensicht auf die Figuren gewählt.

Mit dem Weg ins Offene lässt sich der Feldweg, der Lebensweg wiederfinden. Der Feldweg wird immer wieder thematisiert, auch der Titel des Buchs "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" verweist auf dieses Bild. Für den Philosophen Heidegger zieht sich diese Metaphorik durchs gesamte Lebenswerk. Detlev Reinke-Martin hat sich von einer kleinen Schrift von Heidegger, die den Titel "Feldweg" trägt, inspirieren lassen. Gerade das Schreiben über die Stille, die Rückbesinnung auf das Einfache wird als wichtiges Moment in heutiger schnelllebiger Zeit viel zu sehr vernachlässigt. Dem Einfachen des Lebens stellt Heidegger die Zerstreutheit und den "Lärm der Apparate" gegenüber. Für den Zerstreuten erscheint Einfaches nur noch "einförmig". Schließlich verflüchtigt sich das Einfache im lärmenden Treiben: "Seine stille Kraft ist versiegt" Reinke-Martin fokussiert mit kritischem Blick aufs Heute die fehlenden Momente von Stille und Kontemplation. Auch das Moment der Wiederholung, der Wiederholbarkeit als einem Anderen im Vertrauten, das sich Vertiefen, sich Hingeben an die Kunst, Forschen und Experimentieren, sind alles Haltungen, die Raum und Zeit bedürfen, bestimmte Bedingungen voraussetzen, die in heutiger Schnelllebigkeit oft nicht mehr gegeben sind, denen der Mensch aber dringend bedarf, will er zum Wesen der Dinge vordringen und nicht hektisch, lärmend an der Oberfläche hintreiben. Reinke-Martin verknüpft auch hier gekonnt persönliche Inhalte und Kritik an aktuellen Tendenzen mit philosophischer Tradition. Die Hinwendung zum Leben, einfache Lebensfreude und Lebenslust, steht hier im Mittelpunkt der Betrachtung.

Im Nachwort des Buchs "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" von Detlev Reinke-Martin stellt der Philosoph und psychologische Kommunikationswissenschaftler Hamid Reza Yousefi den Autor resümierend als einen "spielerischen Theologen" vor. Die Heideggerschen Grundworte "Idemität" und "Jemeinigkeit" laden immer wieder zu neuen Codierungen und Encodierungen ein. So definiert Reinke-Martin diese Begriffe noch einmal neu für sich und übersetzt sie in das "Eigene auf dem Weg, der Spur zum Selbst". Hierbei gestaltet er geradezu virtuell als " persona activa" einerseits und andererseits als "persona performativa" seine Übersetzungen formieren erste Spuren, die er für den Lesenden legt, um Erlebtes und Erdachtes kontextlich zu begreifen. In diesem Sinne erschließt sich auch das Geleitwort des Philosophen und Religionswissenschaftlers, Harald Seubert, zur präludierenden und in sich fulminant erscheinenden Dissertation: "Dieses Buch beschreibt immer auch zwischen den Zeilen, hoch reflektiert, den biographischen Weg eines hochbegabten und gebildeten Musikers, Theologen und Religionspädagogen, der wurde, was er ist, und der auf dem Weg auch erst lernte, wer er war."

So wird verständlich, dass Detlev Reinke-Martin mit der "Spur ins Ungedachte", die ihn über Feldwege und Schleichwege führt, das Drehbuch seines Lebens noch einmal auf neuer, philosophisch-musikalischer Bühne zur Aufführung bringt und zu diesem neue mediale Kulissen kreiert: das Eigene so zum Anderen kommen lässt. Unbekümmert, spielerisch und mit einer Portion Wagemut nimmt er den Leser mit hinein in seine Lebenskomposition. Demnach ist nicht nur die methodische Herangehensweise der diversen medialen Aufschreibesysteme ein Wagnis, auch das Thema der "Spur" lässt an aktuelles Denken wie beispielsweise an die Philosophie der "différance" von Jacques Derrida anschließen. Die Nähe eines Derridas zu Heidegger, der bereits Begriffe der Konstruktion und Destruktion methodisch verschränkt und aus denen Derrida seine Methodologie des Dekonstruktivismus entwickelt, ist unverkennbar. So entschlüsselt der Autor mit Hilfe der Dekonstruktion die in Bachs Choralspiel aufgegriffene erste Strophe aus Agricolas Lied und verweist auf die hinterlassene Spur der weiteren vier, nicht bearbeiteten Strophen (vgl. S.168). Demnach bleiben vor allem offene, begehbare Räume neuer gedanklicher Synthesen, Gesagtes schließt sich noch Ungesagtem an, eine endlose Signifikantenkette, eine endlose Kette von neuen Bedeutungen und Deutungen zu Ereignissen und Erlebtem lässt sich auch bei Detlev Reinke-Martin finden. Die Spur ist hierbei zentrales Motiv. Spuren lassen sich als "die Spur als Zeichen, die Spur des Anderen, die Spur des Vergangenen" deuten. Alle diese Deutungen zum Spur-Begriff finden sich bei Reinke-Martin wieder: Auf der Ebene der Zeichen operiert Reinke-Martin intermedial, setzt Zeichen aus verschiedenen "Aufschreibesystemen" ein und erreicht somit eine methodisch breit aufgefächerte, sehr vielschichtige, kunstvoll-philosophische Herangehensweise an die Inhalte. Mit dem Buch mit CD hinterlässt er Spuren, Einschreibungen, unterschiedliche Wege, die der Leser/die Leserin gehen kann, Angebote, seine Weltwahrnehmung zu teilen. Ebenso setzt sich der Autor mit der Spur des Anderen auseinander: So findet er immer wieder neue musikalische wie auch visuelle Bilder, um eine Brücke zwischen dem Vertrauten, Eigenen zum Fremden, Unbekannten zu schlagen. Diese Brücke ist oftmals als Wegmotiv dargestellt, sei es der Feldweg, der vom Bekannten ins Unbekannte führt, sei es der Weg vom Amphitheater hinaus den Berg hinaufsteigend, sei es die Treppe im Turm, die zu erklimmen wäre, oder sei es auch der immer wieder neu interpretierte Choral Bachs, dem zu lauschen, ihn zu spielen, jedes Mal als ein Beschreiten eines alten und doch neu definierten Wegs gleicht. Oft bewegen sich der Anfang und das Ende des Weges in den Bildern auf zwei verschiedenen Ebenen, von denen der Endpunkt höhergelegt ist und ins Offene, in die Weite oder auch in die Natur führt. Das Andere ist demnach bei Detlev Reinke-Martin positiv besetzt. "Die Einladung zum Lebens-Tanz bleibt". Es wird metaphorisch erhöht, bietet eine offene, weite Perspektive - einen herrlichen Ausblick, verweist auf etwas Höheres oder im musikalischen Motiv Bachs auch auf etwas Tiefergehendes, das Andere ist noch als Spur in der Abwesenheit der weiteren vier Strophen aus Agricolas Lied zu finden. Das in die Tiefe der Musik Vordringen durch wiederholtes Interpretieren und Ausgestalten dieser ist auch als ein Moment des Anderen zu nennen. So lässt sich sagen, dass Anfangs- und Endpunkt meist vertikal, selten horizontal auseinanderliegen in den Metaphoriken Reinke-Martins und vor allem der Weg, die Spur, das entscheidende verbindende Element zwischen den Polen hervorgehoben wird. Den Weg können die beiden Figuren, Poios und Zygomacheos, gemeinsam beschreiten, es ist aber auch der Weg des sich Öffnens vom Eigenen zum Anderen, der Weg des sich Anvertrauens hin zu einem Gegenüber gemeint. So steht die offene Weite einer Turmaussicht in enger Verbindung mit dem Weg des Autors und seinem sich Öffnen, sich dem Leser/der Leserin anvertrauen, werden die drei Teile des Buchs doch immer wieder an die Autobiografie des Autors rückgebunden. Die dritte Ausdeutung der Spur als die Spur des Vergangenen erschließt sich somit fast von selbst: Der beschrittene Lebensweg des Autors und seine Vergangenheit bilden die Grundlage des Buchs und geben ihm seine Gliederung vor. Die Nachzeichnung des Lebenswegs, also des Vergangenen, kann als eine Spur ausgedeutet werden, das Buch selbst also als Spur des Vergangenen. Und so trägt Detlev Reinke-Martin auch Zeitzeugnisse, Fotomaterial, Flyer, Notenschriften vom Vergangenen zusammen, die vor allem in ihrer Wirkung auf den Autor, also in der Frage, welche Spur sie in ihm hinterlassen haben, ausgewählt worden sind.

Detlev Reinke-Martin schlägt im Titel des Buchs eine neue Ausdeutung der Spur vor: "Die Spur ins Ungedachte". Dabei ist hier weniger das Ungewisse gemeint, sondern der Weg zum inneren Bild, zum Lebensbild einer "culture des soi", das aus vielen Mosaiksteinen zusammengesetzt ist, und an dem sich der Autor mit wechselnden Perspektiven und unterschiedlichen Zugängen abarbeitet. Das Buch selbst wirkt wie ein buntes, aber dennoch wohlgeformtes Mosaikbild aus vielen Eindrücken, Erinnerungen, Metaphoriken, Ausdeutungen, Zusammenführungen von vorher noch nicht Zusammengedachten usw. Wer den "Feldweg: Die Spur ins Ungedachte" von Detlev Reinke-Martin liest, begibt sich auf eine Reise in ein von wirbelnden Lebensklängen erzählendes Geschehen, das aufrüttelt, bewegt und zum stundenlangen Philosophieren einlädt. Ein Theater des Lebens, ein Lustgarten medialer Ver- und Entschlüsselungen, eine Spur aus dem Eigenen hinaus in fremde, verheißende Landschaften. Dieses originelle und spielerische Unternehmen voller theologischer-philosophischer-musikalischer Gedankengänge ist unbedingt zu empfehlen!

Dr. Kristina Schippling, Berlin


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