Alexandra von Teuffenbach

„Vater darf das!“

Eine Archivdokumentation

Sr. M. Georgina Wagner und andere missbrauchte Schönstätter Marienschwestern

Rezension


Der allmächtige Vater

Die Vorwürfe gegen Schönstatt-Gründer Josef Kentenich wiegen schwer. Seine Bewegung idealisiert ihn dennoch

Wer war Josef Kentenich? Für die Mitglieder, der von ihm gegründeten Schönstatt-Bewegung schien die Antwort lange klar: ein quasi heiliger Visioriär, eine der großen geistlichen Gestalten des 20. Jahrhunderts. Auf dem Sarkophag des 1968 verstorbenen ehemaligen Pallottinerpaters steht "Dilexit Ecclesiam", "Er liebte die Kirche". Eine Liebe, die nicht immer und von allen Teilen der Kirche auf Gegenliebe stieß - 13 Jahre war er auf Anweisung Roms von seinem Werk getrennt und musste sich in den USA aufhalten. "Exil" nennen die Schönstätter diese Zeit und sehen in ihr das Zeichen für eine rückständige Kirche, die die zeitgemäße revolutonäre Pädagogik und Theologie Kentenichs nicht verstehen wollte: Ideen wie ein "Liebesbündnis" mit Maria und neue Formen der geistlichen Gemeinschaft, die ohne formelle Gelübde auskommen. Ein ebenso missgünstiger wie aufbrausender römischer Visitator sei.aus Neid oder Unverstand gnadenlos gegen Kentenich und sein Werk vorgegangen. Nach Kentenichs Tod wurde dennoch schnell ein Seligsprechungsverfahren eröffnet - 1975, und das ausgerechnet durch Bischof Bernhard Stein, der gut 25 Jahre zuvor als Weihbischof die erste Visitation der Schönstätter Marienschwestern verantwortete.

Heute, 45 Jahre nach Beginn, ist dieses Verfahren immer noch nicht abgeschlossen. Ungewöhnlich angesichts der Verehrung, die Schönstatt seinem Gründer entgegenbringt, und ungewöhnlich auch angesichts des weltumspannenden Netzes des Werks, zu dem einflussreiche Bischöfe und Kardinäle gehören. Doch das Verfahren hat nicht einmal die erste Hürde genommen, die diözesane Ebene. Zwar hat die Historikerkommission des Bistums Trier ihre Arbeit 2007 beendet, aber seither ist es still um die Seligsprechung geworden.

Über die Gründe für die Dauer konnte man lange allenfalls spekulieren - die meisten Beteiligten in solchen Verfahren sind zum Schweigen verpflichtet. Anhaltspunkte dafür kamen erst im Sommer ans Licht: Die italienische Kirchenhistorikerin Alexandra von Teuffenbach veröffentlichte in der "Tagespost" einen Artikel zu Funden, die sie in den erst dieses Jahr zugänglichen Archiven des Vatikans aus der Zeit des Pontifikats von Pius XII. (1939-1958) gemacht hatte. Eigentlich forscht sie dort zu den vatikanischen Konzilien. Doch in den Unterlagen des Konzilstheologen und Jesuiten Sebastian Tromp fand sie noch mehr: Dokumente aus seiner Visitation der Schönstätter Marienschwestern, die so der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich waren. Tromp berichtet von Missständen in der von Kentenich gegründeten und geleiteten Gemeinschaft der Marienschwestern, von systematischem Machtmissbrauch, psychischem Druck, sexualisierter Gewalt und einem überzogenen Konzept von geistlicher Gemeinschaft als Familie mit Kentenich als allmächtigem Vater an deren Spitze. Teuffenbach spricht von "hilflose[n] erwachsene[n] Frauen, die zu Kindern erniedrigt werden, ja die sogar den Vater fragen müssen, wann sie die Toilette aufsuchen, die Unterwäsche und Damenbinden wechseln dürfen". Viel weiter geht sie noch nicht ins Detail.

Diese Seite des Gründers war bisher der Öffentlichkeit nicht bekannt - kein Wunder. So verehrt er in seiner Gemeinschaft ist, so wenig bekannt ist er in der Öffentlichkeit. Publiziert wurde bislang zu seiner Biografie und zu seiner Spiritualität fast ausschließlich von Mitgliedern des Schönstatt-Werks. Teuffenbach bedroht nun mit ihrer Publikation die Deutungshoheit, die Schönstatt jahrzehntelang über ihren Gründer hatte. Zu den Volten des Vorgangs gehört, dass ausgerechnet Schönstatt selbst Teuffenbach auf die Fährte von Tromps Visitationsberichten gesetzt hatte: Vor 15 Jahren habe sie bereits einen Artikel zu Tromp veröffentlicht, erzählt sie, woraufhin sie Anrufe aus dem Schönstatt-Umfeld erhalten habe. "Die Fragen waren so seltsam, dass ich mir das gemerkt habe: Da muss etwas sein", so Teuffenbach. Mit Öffnung der Archive ging sie diesem Verdacht nach.

Im Schönstatt-Werk versuchte man die unliebsamen Enthüllungen schnell wieder einzufangen und die Deutungshoheit zurückzuerlangen. Was Teuffenbach als neu ausgebe, sei schon lange bekannt und entkräftet. Papst Paul VI. habe Kentenichs "Exil" aufgehoben und ihn rehabilitiert. Dass überhaupt die für die Aufnahme des Seligsprechungsverfahrens notwendige Unbedenklichkeitserklärung durch den Vatikan erteilt worden sei, beweise die Rehabilitierung Kentenichs. Nach außen behauptete das Schönstatt-Werk in einer öffentlichen Erklärung des Generalpräsidiums den Willen zu einer lückenlosen Aufklärung. Die rasch vom zuständigen Trierer Bischof Stephan Ackermann angekündigte Einrichtung einer neuen Historikerkommission wurde begrüßt. In einem internen Schreiben an die deutschen Verantwortlichen des Schönstatt-Werks, das katholisch.de zugespielt wurde, klang es dagegen anders: "Wir wollen möglichst wenig gegenüber Medien reagieren", heißt es in dem Brief. "Die Strategie der Medienkommission, die von der Mehrheit des Generalpräsidiums unterstützt wird, ist von dem Bemühen geprägt, sich nicht auf das Niveau von Alexandra von Teuffenbach, der Tagespost und anderer Medien wie zum Beispiel katholisch.de zu begeben."

Dass Öffentlichkeit für Schönstatt eine Bedrohung darstellt, zeigte sich schnell. Die Verteidigungslinie zerbrach: Für die angebliche "Rehabilitierung" Kentenichs durch Papst Paul VI. schien es keine Belege zu geben, was gut zwei Wochen nach der ersten Veröffentlichung auch der Schönstatt-Pater Angel Strada einräumte - weil es nicht Praxis des Heiligen Offiziums, der heutigen Glaubenskongregation, gewesen sei, solche Dokumente auszustellen. Strada war bis 2016 Postulator im Seligsprechungsverfahren und damit dafür zuständig, Erkenntnisse über den Kandidaten zusammenzutragen. Schließlich tauchte auch ein Schreiben Joseph Ratzingers aus seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation auf, das sich explizit dagegen verwahrt, dass die Kongregation frühere Bewertungen geändert hätte. "Die Glaubenskongregation ist nicht der Meinung, dass die Beanstandungen, die der Apostolische Visitator seinerzeit an Lehre und Tätigkeit P. Kentenichs machte, ein bedauerlicher Irrtum gewesen seien und auf falschen Informationen beruhten", heißt es in dem auf 1982 datierten Brief.

Belege für eine Rehabilitierung fanden sich nur in Anekdoten über eine Begegnung Kentenichs mit Papst Paul VI. und einem Schreiben des Münsteraner Bischofs und späteren Kölner Kardinals Joseph Höffner, der 1966 in einem Brief an deutsche Bischöfe von der Aufhebung aller Sanktionen gegen den Schönstatt-Gründer berichtete - allerdings ohne Dokumente aus dem Vatikan dafür beizubringen. Auch die Behauptung, alles sei schon bekannt und geprüft geworden, konnte nicht gehalten werden. In der September-Ausgabe der Herder Korrespondenz räumte der Kirchenhistoriker und Schönstatt-Pater Joachim Schmiedl ein, dass die von Teuffenbach gefundenen Dokumente nicht Teil des Seligsprechungsverfahrens gewesen und damit auch nicht in diesem Rahmen geprüft worden seien.

Erst Ende Oktober erschien schließlich die von Teuffenbach lang angekündigte Dokumentensammlung - mit einer weiteren Überraschung. Eigentlich war ein Einblick in die vatikanischen Archive erwartet worden. Doch nur wenige der in der Sammlunng unter dem Titel "Vater darf das" veröffentlichten Dokumente hat die Kirchenhistorikerin in den römischen Archiven gefunden. Das meiste stammt aus dem Limburger Provinzarchiv der Pallottiner - offen zugänglich, wenn man nur weiß, was man sucht. Teuffenbach zeichnet das Martyrium der später aus ihrer Gemeinschaft ausgetretenen Marienschwester Georgia Wagner nach anhand von Briefen und vor allem Zeugenaussagen für den Trierer Seligsprechungsprozess. Wagner und zehn weitere in die Sammlung aufgenommene Schwestern haben detailliert und unter Eid geschildert, wie sie Kentenichs sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch ausgesetzt waren. Die Dokumente zeichnen das Bild eines charismatischen, aber berechnenden und übergriffigen Führers, der systematisch einen Vaterkult in seinem Werk installierte und alle an den Rand drängte, die sich dem widersetzten. Schwestern mussten - gegen das geltende Kirchenrecht - bei ihm beichten, wurden zur Selbstkasteiung gezwungen, mit körperlichen Strafen bedroht und erniedrigenden, religiös verbrämten Unterwürfigkeitsritualen unterzogen. "Sein Gesicht strahlte dann, wenn er einen ganz ohnmächtig und klein vor sich hatte", schreibt Wagner in einem der abgedruckten Briefe.

Aus dem Schönstatt-Werk kamen nach der Veröffentlichung neue Stellungnahmen, die Zweifel an der angeblich"einseitigen" Zusammenstellung anmeldeten. Warum zehn Schwestern unter Eid lügen sollten, konnte aber auch Schönstatt nicht erklären.

Felix Neumann


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