Das Denken Martin Heideggers II 2

herausgegeben von Hans-Christian Günther

Heidegger und Leibniz von Günther Neumann

Mit einem Geleitwort von Friedrich-Wilhelm von Herrmann

Rezension


Die vorliegende Monographie setzt sich zum Ziel, Martin Heideggers Interpretation von Gottfried Wilhelm Leibniz in ihren verschiedenen Etappen ausführlich zu rekonstruieren. Dies wird durch eine philologische und zugleich theoretische Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Primär- und Sekundärquellen ermöglicht, welche analytisch, unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Entwicklung von Heideggers gesamter Leibniz-Interpretation, untersucht werden.

Günther Neumann unterscheidet innerhalb des Gesamtwerkes Heideggers drei Hauptphasen der Leibniz-Auslegung, die den Entfaltungsmomenten des sich immanent wandelnden Denkens Heideggers entsprechen. In der ersten Hauptphase bewegt sich Heideggers Auslegung im Rahmen der Fundamentalontologie. Die zweite bzw. mittlere Phase thematisiert den Übergangscharakter von Heideggers Überlegungen auf dem Weg zum Ereignis-Denken, während in der letzten Phase sich diese Grundannahmen der späteren Perspektive im Denken Heideggers widerspiegeln.

Das erste Kapitel widmet sich der ersten Etappe der Leibniz-Rezeption, welche intern noch in drei Unterphasen - vor, in und nach Sein und Zeit - eingeteilt wird. Wie die Analyse des Autors zeigt, entsteht und erwächst Heideggers Interesse für Leibniz gradweise: Als abwesende Figur in Sein und Zeit wird Leibniz um 1928 zum bevorzugten Gesprächspartner, der einer kritischen Aneignung unterzogen wird. Wie aus Neumanns Rekonstruktion hervorgeht, taucht vor Sein und Zeit der Begriff des Dranges - ein Terminus, mit dem Heidegger in späteren Schriften den Leibniz'schen Begriff vis übersetzt - bereits in § 31 der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes von 1925 auf. Der Drang, der in diesem Kontext nicht explizit mit Leibniz in Verbindung gebracht wird, bezeichnet eine uneigentliche Modifikation der Sorge, in der das Dasein ausschließlich auf die Zukunft - auf etwas, um jeden Preis - gerichtet ist.

In Sein und Zeit bleibt der Name Leibniz unerwähnt, da – wie der Autor bemerkt – das Hauptziel der phänomenologischen Destruktion René Descartes und noch nicht Leibniz ist, der – nach Heideggers Ansicht – die cartesianische Ontologie des Subjekts weiter geltend macht. Nur in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz von 1928 – auf welche sich die Rekonstruktion Neumanns (im Folgenden kurz berichtet) konzentriert – destruiert Heidegger die Metaphysik der Monade. Leibniz’ genuine Ansichten seien – so Heideggers Behauptung – durch die Auffassung der Monade als eine in sich geschlossene Ich-Sphäre gefährdet: Das Problematische liege darin, dass die Monade alles schon in sich habe und dadurch kein Bedürfnis habe, sich selbst in die Welt hinein zu entwerfen. Auf die Frage nach der Wesenskonstitution der Monade geht Heidegger insbesondere ein: Der Drang bezeichne die Substanzialität der Monade und zwar dasjenige, das ihre Einheit und Individuation gewährleistet. Der Drang, in dem für Heidegger der zeitlich-ekstatische Charakter der Monade seinen Ursprung hat, wird als ein einheitliches Geschehen interpretiert, zu dem die zwei Strukturmomente Vorstellen (perceptio) und Streben (appetitus) gehören. Heidegger betont, dass das strebende Vorstellen der Monade sich nicht nur in einer jeweils besonderen Darstellung und Enthüllung der Welt, sondern auch in einer Selbsterfassung (im Sinne einer Reflexion) ausdrückt.

Das erste Kapitel schließt mit der Vorlesung Einleitung in die Philosophie von 1928/29, die einen zusammenfassenden Einblick in die erste der drei Hauptphasen der Leibniz-Interpretation Heideggers gewinnen lässt. Dabei stellt Neumann die Ambivalenz dieser Interpretation dahingehend heraus, dass Heidegger einerseits auf „den Reichtum und die Tiefe“ der Monadologie – die Monade sei „eine der kühnsten Ideen, die überhaupt seit Platon in der Philosophie lebendig wurden“ (GA 27, S. 143, vom Autor zitiert auf S. 44) – und andererseits auf Leibniz’ Abhängigkeit vom traditionellen Subjektbegriff verweist. Der Autor hebt darüber hinaus besonders hervor, dass Heidegger die Fensterlosigkeit der Monade ausgehend von der Transzendenz des Daseins auf eine radikalisierte Weise deutet: Denn auch das Dasein ist – so Heidegger – wie die Monade ohne Fenster, weil es diese nicht braucht; jedoch nicht, weil es alles in sich hat, sondern, weil es als ein ständig transzendierendes Seiendes, immer schon draußen ist.

Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Seminar Leibnizens Weltbegriff und der Deutsche Idealismus (Monadologie) von 1935/36, in dem sich „Heideggers umfangsreichste Auseinandersetzung mit der Philosophie von Leibniz“ (S. 47) niederschlägt. Die Monadologie wird dort der Geschichte der Metaphysik – gekennzeichnet durch die Leitfrage über das Sein des Seienden – zugeordnet. Neumann unterstreicht hierzu insbesondere, dass Heidegger die von Leibniz gestellte Seinsfrage als mangelhaft betrachte, indem er ihm vorwerfe, einerseits das Menschsein innerhalb des überlieferten Paradigmas des homo rationale (und cogitans) zu deuten und andererseits sich an Gott als dem letzten Referenzpunkt für das Verständnis des Seins zu halten. Auch wird vom Autor in Bezug auf das Seminar von 1935/36 Heideggers Kritik der Leibniz’schen Zeitauffassung in Betracht gezogen. Denn auch wenn Heidegger zugesteht, dass Leibniz die ekstatische Zeitlichkeit als das Erstrecktsein der Monade in Vergangenheit und Zukunft anerkannt habe, sei er jedoch im Grunde am vulgären Verständnis der Zeit als lineare Reihenfolge von Jetzt-Punkten hängen geblieben. Auch nimmt Neumann Heideggers Behandlung von Leibniz’ Begriff der Möglichkeit im genannten Seminar in den Blick: Seine Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf Heideggers Behauptung, dass in der Monadologie nicht die formale Bedeutung der possibilitas (als das Widerspruchslose), sondern der dynamische Sinn der Möglichkeit als „Drang zur Wirklichkeit“ (GA 84.1, S. 406 f, zitiert auf S. 57) entscheidend sei – und dass gerade auf dieser zweiten Bedeutung von Möglichkeit der Leibniz’sche Gottesbeweis fuße.

Dass sich die Leibniz-Interpretation von 1935/36 in einer Übergangsphase innerhalb des Denken Heideggers befindet, belegt der Autor u. a. durch den Verweis auf Heideggers eigene Aufzeichnungen für das Seminar. Diese weisen nach, dass Heidegger den transzendental-horizontalen Ansatz der Fundamentalontologie als Leitfaden für seine Leibniz-Interpretation verlassen habe. Dies betreffe vor allem Heideggers Aufzeichnungen zum spiegelnden Charakter der Monade, in denen sich das neue Verständnis des Ereignisses als Gegenschwung zwischen Wurf und auffangendem Entwurf ankündige (vgl. dazu S. 63–65).

Die dritte Hauptphase der Leibniz-Rezeption wird im dritten Kapitel thematisiert, das sich zunächst auf das grundlegende Werk des Ereignis-Denkens – die Beiträge zur Philosophie – konzentriert. Dieses Werk legt – so unsere Einschätzung – den Rahmen von Heideggers späterer Leibniz-Interpretation im Voraus fest, indem hier Leibniz’ Denken explizit in der Geschichte der Metaphysik eingereiht wird. Leibniz wird in den Beiträgen – wie Neumann ausführt – als Wegbereiter der Kantischen Philosophie und des Deutschen Idealismus angesehen. Der Autor setzt seine Analyse mit der wichtigen Beobachtung fort, dass im Ereignis-Denken – im Unterschied zu Sein und Zeit – Leibniz mehr Gewicht als Descartes zukomme. Als weiteren Beweis dafür führt Neumann eine Textstelle aus der kurz nach den Beiträgen entstandenen Abhandlung Besinnung an, in der Leibniz’ Denken als der „eigentliche neuzeitliche Beginn der Metaphysik“ (GA 66, S. 398, zitiert auf S. 69) gedeutet wird. Dies hat aber auch zur Konsequenz – was Heidegger in anderen, durch den Autor immer punktuell referierten Kontexten erläutert –, dass Leibniz’ Interpretation des Seins als Drang (als Einheit von perceptio und appetitus) die Grundlage für Nietzsches spätere Lehre des Willens zur Macht bildet.

In seinem Vortrag Zur Geschichte des Existenzbegriffes von 1941 sowie seinem Nietzsche-Buch von 1961 kommt Heidegger erneut auf den Drang zu sprechen, in dem er zeigt, dass Leibniz’ Monadologie durch ein besonderes, die neuzeitliche Metaphysik bestimmendes Verständnis von Existenz (im Sinne der traditionellen existentia) gekennzeichnet ist. Im Drang der Monade sieht Heidegger ein Verlangen nach Vorstellen, welches sich als der Grundzug des Existierens erweist. Dieser verlangende und fordernde Charakter der monadologischen Bestimmung des Seins lässt sich in einen Zusammenhang mit der Vorlesung Der Satz vom Grund von 1955/56 bringen, in der Leibniz’ Denken als eines angesehen wird, das die „Haupttendenz“ der „Metaphysik des modernen Zeitalters [trägt und prägt]“ (GA 10, S. 51, zitiert auf S. 82). Dieses Zeitalter ist bekanntlich für Heidegger durch das „Ge-stell“ als eine besondere Gestaltung des Verhältnisses von Mensch und Sein charakterisiert, in dem das Existieren des Menschen zu einem Herausfordern wird, das sich zum Seienden als einem völlig verfügbaren Bestand – und zwar berechnend – verhält.

Die Vorlesung von 1955/56 legt ihren Fokus auf das Thema des Satzes vom Grund – ein Prinzip, das, wie in den Ausführungen des Autors deutlich wird, auf ein vorstellendes Erkennen der Gegenstände und eine rechnerische (im weiten Sinne mathematische) Haltung gegenüber dem Seienden basiert. Heidegger konzentriert sich hier insbesondere auf die Frage, worin die behauptete Notwendigkeit dieses Prinzips beruht – was ihn letztlich zu Leibniz’ Verständnis von Gott als erste Ursache und daher in den Rahmen der zu überwindenden Ontotheologie führt. Über diese Auffassung des Grundes geht Heidegger aber weit hinaus, um letztlich seine eigene Konzeption des Seins als gründendes Geschehen zum Ausdruck zu bringen. Diesbezüglich weist Neumann am Ende seiner Abhandlung auf Heideggers Behauptung hin, dass mit Leibniz das Sein als Gründendes sich auf eine entschiedene Weise entzogen habe und dass daher ein neuer Anfang nötig sei, um aus dem Schlaf der Seinsvergessenheit erwachen zu können.

Neumann ist es mit seiner Monographie völlig gelungen, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass sich Leibniz-Auslegungen und vor allem die Rezeption des Begriffes des Dranges mit zentralen Fragestellungen des Denkens Heideggers kreuzen. In der ersten Phase von Heideggers Auslegung wird der Drang aufgrund seines zeitlich-ekstatischen Charakters einerseits aufgewertet. Andererseits kritisiert Heidegger die Leibniz’sche Auslegung des Drang-Begriffes, weil sich diese letztlich als unangemessen erweist, der Transzendenz des Daseins Rechnung zu tragen. Wir könnten Heideggers diesbezügliche Ansicht zusammenfassend so lesen, dass der Leibniz’sche Drang einerseits aus der Immanenz der in sich selbst geschlossenen Monade nicht wirklich herauszukommen vermag und dass er andererseits das Transzendieren als intersubjektive Erschlossenheit verhindert. Um unsere Vermutung anders zu formulieren: im Leibniz’schen Drang sieht Heidegger das Prinzip einer geschlossenen Subjektivität, wobei er mit dem Transzendenz-Begriff auf die Grundstruktur einer offenen Subjektivität zielt. Noch tiefer wird der Verdacht gegen den Leibniz’schen Drang innerhalb Heideggers Ereignis-Denkens. Denn hier befindet sich der Drang am Anfang einer Geschichte, in der die Macht- und Kontrollansprüche des Menschen sich vervielfacht haben.

Und dennoch könnte man zum Schluss die Frage aufwerfen: Ist der Begriff des Dranges als solcher gefährdet? Oder lässt sich, ausgehend von der Leibniz-Rezeption, eine andere, nämlich positive Deutung des Dranges erarbeiten, in welcher der Drang kein nur abkünftiges Phänomen des Daseins ausmacht, sondern an eine ursprünglichere Ebene der menschlichen Konstitution gelangt? Könnte man im Drang eine eigentliche und wesentliche Dynamik des Existierens qua Transzendierens erkennen? Und wenn ja, wo könnte ein solcher Drang verortet werden, wenn der Primat des Vorstellens (repraesentare) fraglich wird? Dies sind nur einige Fragen, die nach der Lektüre der klar und konzis verfassten Monographie Neumanns auftreten und weitere Perspektiven in der Forschung – in und über Heidegger hinaus – eröffnen.

Chiara Pasqualin (Univ. Genua)


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