Aus der "Gewaltsamkeit" seiner Interpretation der wesentlichen Denker machte Heidegger nie einen Hehl. Er sah diese vor allem
als "Übersetzungen" oder Versuche, ihren Gegenstand zu "überhellen" (Der Freiheitsbegriff.., S.91 ff.), Versuche, die
davon lebten, das "Ungesagte"(ebd.) im Gesagten aufzuspüren. Wissend um diese hermaneutische Herausforderung, gelingt es dem
in Mathematik und Philosophie promovierten Heidegger-Forscher und Herausgeber Günther Neumann auf zweifache Weise, dem Leser
Heideggers Verhältnis zu Leibnitz und die subtilen Nuancen des Freiheitsbegriffs beider Denker näherzubringen. Im Kontext der
seit dem 16. Jahrhundert stattfindenden philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mathematisierbarkeit der Welt -
die heutzutage umso mehr die ethische Problematik einschließt -, ist eine Besinnung auf das Denken des genialen Mathematikers
und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gerade angesichts der Freiheitsproblematik eine Angelegenheit von besonderer Dringlichkeit.
Leibniz ist nämlich nicht nur der Autor des berühmten Satzes "Cum deus calculat, fit mundus", bei dem er die unbegrenzte
Anwendbarkeit der Mathematik voraussetzte, und des Satzes vom zureichenden Grund als viertem Grundsatz der Logik, sondern war
auch gleichzeitig ein Verfechter menschlicher Freiheit aus der Vernunft. Das diese Freiheit jedoch für Leibniz auf komplexe
Weise mit dem Gedanken der Vorherbestimmung zusammenhängt und kompatibel gemacht werden muss, zeigt Günther Neumann im ersten
Kapitel des Buches Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger. Über die Auseinandersetzung
mit dem Spinozismus und Leibniz' Versuche, den Nezessitarismus zu überwinden, die Neumann u.a. mit einer eindrucksvollen Stelle
eines Briefes an den Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski dokumentiert (S.29), werden die historischen Debatten um die
Frage nach der Existenz möglicher Welten mit Rücksicht auf Leibniz' Gottesbegriff und seiner Metaphysik als 'Onto-theo-logie' erörtert.
Anschließend wird die Frage der Kompatibilität von hypothetischer Notwendigkeit und Freiheit als Kontingenz (S.43) aufgegriffen,
die Leibniz als Problem der Selbstdetermination ('durch sich selbst", S.45) diskutiert. Ein weiterer wichtiger Punkt,
die leibnizsche Unterscheidung zwischen nötigen (nécessiter) und neigen (incliner), wird hier ergänzt durch einen Vergleich mit den
Neurowissenschaften vor dem Hintergrund der "Abgrenzung gegen jede Art von mechanischer Hypothese" (S.49). Das zweite Kapitel behandelt
Heideggers Leibniz-Auslegung im Rahmen seiner Seminare (vor allem denen, die zwischen 1931 und 1934 stattgefunden haben und die als
Band 84.1 der Gesamtausgabe Seminare: Kant-Leibniz-Schiller erschienen sind). Dabei liegt Heideggers Fokus auf dem Gedanken
des individuellen Gesetzes der Monade als lex seriei im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeitlichkeit. Die Resultate der
heideggerschen Analyse trägt Günther Neumann als Zusammenfassung von fünf Thesen vor (S.103 ff). Schließlich widmet sich das dritte
Kapitel dem heideggerschen Freiheitsbegriff unterwegs zum 'Ereignis-Denken' und untersucht die Zusammenhänge von Schuld und
Verantwortung (S.146 ff.), Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Wechsel der hermaneutischen Perspektive von der Sinn- zur
Wahrheitsfrage. Dass dabei Leibniz für Heidegger zunehmend wichtig wurde und sogar "dem späten Heidegger in gewisser Weise näher als Kant" rückte,
zeigt Neumann anhand des 2020 erschienenen zweiten Bandes der Reihe Das Denken Martin Heideggers, der in einer komprimierten
Form den verschiedenen Etappen des Gespräches Heideggers mit Leibnitz gewidmet ist. Heideggers Interesse an Leibniz veränderte sich in den drei Abschnitten seiner Rezeption, die Neumann als das Umfeld der Fundamentalontologie
von Sein und Zeit, als Übergang zum Ereignis-Denken und als das sogenannte Spätdenken herausstellt, das ab den Beiträgen zur Philosophie
und Besinnung bis zur berühmten Vorlesung Der Satz vom Grund vom Wintersemester 1955/56 Auseinandersetzungen mit dem leibnizschen
Denken enthält. So rücken in der ersten Hauptphase die Phänomene des Hanges und Dranges ins Zentrum, die Heidegger in Zusammenhang mit dem
Phänomen der Sorge anspricht (1925, Die Prolegomena-Vorlesung), die Repräsentation der Monaden in den Grundproblemen der Phänomenologie (1927),
die Destruktion der Urteilslehre in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik vom Sommersemester 1928 und die Fensterlosigkeit
der Monaden in der Einleitung in die Philosophie (1928/29). In der zweiten Etappe der Rezeption stehen im Umfeld der Monadologie Heideggers Versuche, sich das Denken Leibniz' anzueignen, ja, es
gleichsam zu 'übersetzen', wie es das von Günther Neumann angeführte Zitat der Beiträge belegt, das fast als Motto der Konfrontation mit Leibniz
gelten dürfte: "Leibnizens unergründliche Vielgestaltigkeit des Frageansatzes sichtbar machen und doch statt der monas das Dasein denken"
(GA 65, 176, zit. bei Neumann 2020, S.12.) Die dritte Hauptphase führt von den Beiträgen... über die Nietsche-Vorlesungen (wo Leibniz
als Wegbereiter des Willenscharakters des Seins dargestellt wird, S.71) zu den Aus- und Weiterführungen von 'Überhellungen' leibnizscher Gedanken
in den Vorlesungen Der Satz vom Grund. Wie das von Heidegger beschriebene "Ge-stell" im Kontext der Technik-Auseinandersetzung zu einem
geänderten Verhältnis zur Sprache führt und das Ausmaß dieses Phänomens erörtert Neumann anhand der Frage "Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?",
die das Denken Andre Robinets mit dem Heideggers kontrastiert (S.82). Günther Neumann schließt seine Überlegungen mit einem kurzen Blick auf die
Folgen, die das Prinzip des zureichenden Grundes für die mechanistische Physik der Neuzeit (S.91) hinterlässt, Folgen, die heutzutage zu neuen
ethischen Fragestellungen und denkerischen Auseinandersetzungen auffordern, deren Wurzeln aber schon bei denjenigen wesentlichen Denkern angelegt
sind, für die die Grenzen der Philosophie, der Physik und Mathematik auf selbstverständliche Weise fließend geblieben sind. Dr. Alina Noveanu
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