Das Denken Martin Heideggers II 2

herausgegeben von Hans-Christian Günther

Heidegger und Leibniz von Günther Neumann

Mit einem Geleitwort von Friedrich-Wilhelm von Herrmann

Rezension


Aus der "Gewaltsamkeit" seiner Interpretation der wesentlichen Denker machte Heidegger nie einen Hehl. Er sah diese vor allem als "Übersetzungen" oder Versuche, ihren Gegenstand zu "überhellen" (Der Freiheitsbegriff.., S.91 ff.), Versuche, die davon lebten, das "Ungesagte"(ebd.) im Gesagten aufzuspüren. Wissend um diese hermaneutische Herausforderung, gelingt es dem in Mathematik und Philosophie promovierten Heidegger-Forscher und Herausgeber Günther Neumann auf zweifache Weise, dem Leser Heideggers Verhältnis zu Leibnitz und die subtilen Nuancen des Freiheitsbegriffs beider Denker näherzubringen. Im Kontext der seit dem 16. Jahrhundert stattfindenden philosophischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mathematisierbarkeit der Welt - die heutzutage umso mehr die ethische Problematik einschließt -, ist eine Besinnung auf das Denken des genialen Mathematikers und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz gerade angesichts der Freiheitsproblematik eine Angelegenheit von besonderer Dringlichkeit. Leibniz ist nämlich nicht nur der Autor des berühmten Satzes "Cum deus calculat, fit mundus", bei dem er die unbegrenzte Anwendbarkeit der Mathematik voraussetzte, und des Satzes vom zureichenden Grund als viertem Grundsatz der Logik, sondern war auch gleichzeitig ein Verfechter menschlicher Freiheit aus der Vernunft. Das diese Freiheit jedoch für Leibniz auf komplexe Weise mit dem Gedanken der Vorherbestimmung zusammenhängt und kompatibel gemacht werden muss, zeigt Günther Neumann im ersten Kapitel des Buches Der Freiheitsbegriff bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Martin Heidegger. Über die Auseinandersetzung mit dem Spinozismus und Leibniz' Versuche, den Nezessitarismus zu überwinden, die Neumann u.a. mit einer eindrucksvollen Stelle eines Briefes an den Berliner Hofprediger Daniel Ernst Jablonski dokumentiert (S.29), werden die historischen Debatten um die Frage nach der Existenz möglicher Welten mit Rücksicht auf Leibniz' Gottesbegriff und seiner Metaphysik als 'Onto-theo-logie' erörtert. Anschließend wird die Frage der Kompatibilität von hypothetischer Notwendigkeit und Freiheit als Kontingenz (S.43) aufgegriffen, die Leibniz als Problem der Selbstdetermination ('durch sich selbst", S.45) diskutiert. Ein weiterer wichtiger Punkt, die leibnizsche Unterscheidung zwischen nötigen (nécessiter) und neigen (incliner), wird hier ergänzt durch einen Vergleich mit den Neurowissenschaften vor dem Hintergrund der "Abgrenzung gegen jede Art von mechanischer Hypothese" (S.49). Das zweite Kapitel behandelt Heideggers Leibniz-Auslegung im Rahmen seiner Seminare (vor allem denen, die zwischen 1931 und 1934 stattgefunden haben und die als Band 84.1 der Gesamtausgabe Seminare: Kant-Leibniz-Schiller erschienen sind). Dabei liegt Heideggers Fokus auf dem Gedanken des individuellen Gesetzes der Monade als lex seriei im Zusammenhang mit dem Phänomen der Zeitlichkeit. Die Resultate der heideggerschen Analyse trägt Günther Neumann als Zusammenfassung von fünf Thesen vor (S.103 ff). Schließlich widmet sich das dritte Kapitel dem heideggerschen Freiheitsbegriff unterwegs zum 'Ereignis-Denken' und untersucht die Zusammenhänge von Schuld und Verantwortung (S.146 ff.), Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit im Wechsel der hermaneutischen Perspektive von der Sinn- zur Wahrheitsfrage.

Dass dabei Leibniz für Heidegger zunehmend wichtig wurde und sogar "dem späten Heidegger in gewisser Weise näher als Kant" rückte, zeigt Neumann anhand des 2020 erschienenen zweiten Bandes der Reihe Das Denken Martin Heideggers, der in einer komprimierten Form den verschiedenen Etappen des Gespräches Heideggers mit Leibnitz gewidmet ist.

Heideggers Interesse an Leibniz veränderte sich in den drei Abschnitten seiner Rezeption, die Neumann als das Umfeld der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, als Übergang zum Ereignis-Denken und als das sogenannte Spätdenken herausstellt, das ab den Beiträgen zur Philosophie und Besinnung bis zur berühmten Vorlesung Der Satz vom Grund vom Wintersemester 1955/56 Auseinandersetzungen mit dem leibnizschen Denken enthält. So rücken in der ersten Hauptphase die Phänomene des Hanges und Dranges ins Zentrum, die Heidegger in Zusammenhang mit dem Phänomen der Sorge anspricht (1925, Die Prolegomena-Vorlesung), die Repräsentation der Monaden in den Grundproblemen der Phänomenologie (1927), die Destruktion der Urteilslehre in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik vom Sommersemester 1928 und die Fensterlosigkeit der Monaden in der Einleitung in die Philosophie (1928/29).

In der zweiten Etappe der Rezeption stehen im Umfeld der Monadologie Heideggers Versuche, sich das Denken Leibniz' anzueignen, ja, es gleichsam zu 'übersetzen', wie es das von Günther Neumann angeführte Zitat der Beiträge belegt, das fast als Motto der Konfrontation mit Leibniz gelten dürfte: "Leibnizens unergründliche Vielgestaltigkeit des Frageansatzes sichtbar machen und doch statt der monas das Dasein denken" (GA 65, 176, zit. bei Neumann 2020, S.12.) Die dritte Hauptphase führt von den Beiträgen... über die Nietsche-Vorlesungen (wo Leibniz als Wegbereiter des Willenscharakters des Seins dargestellt wird, S.71) zu den Aus- und Weiterführungen von 'Überhellungen' leibnizscher Gedanken in den Vorlesungen Der Satz vom Grund. Wie das von Heidegger beschriebene "Ge-stell" im Kontext der Technik-Auseinandersetzung zu einem geänderten Verhältnis zur Sprache führt und das Ausmaß dieses Phänomens erörtert Neumann anhand der Frage "Atomzeitalter oder Informatikzeitalter?", die das Denken Andre Robinets mit dem Heideggers kontrastiert (S.82). Günther Neumann schließt seine Überlegungen mit einem kurzen Blick auf die Folgen, die das Prinzip des zureichenden Grundes für die mechanistische Physik der Neuzeit (S.91) hinterlässt, Folgen, die heutzutage zu neuen ethischen Fragestellungen und denkerischen Auseinandersetzungen auffordern, deren Wurzeln aber schon bei denjenigen wesentlichen Denkern angelegt sind, für die die Grenzen der Philosophie, der Physik und Mathematik auf selbstverständliche Weise fließend geblieben sind.

Dr. Alina Noveanu
Dept. of Philosophy, Babes-Bolyai University


Copyright © 2020 by Verlag Traugott Bautz