Mario Marino (Hrsg.)

Körper, Leibideen und politische Gemeinschaft

„Rasse“ und Rassismus aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie

Philosophische Anthropologie Themen und Positionen, Band 10

Rezension


Der Versuch, eine philosophische Anthropologie zu entwickeln, die in der Lage sei, die menschliche Erfahrung in ihrer ganzen Breite und Konkretheit zu verstehen und die somit ein grundlegendes Element einer nicht-positivistischen Ordnungswissenschaft sein könne, ist ein konstantes Merkmal von Voegelins Werk. Aus diesem Grund mag ein Vergleich zwischen Voegelins Denken und der Philosophischen Anthropologie von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen interessant sein. Der Analyse dieser historisch-systematischen Konstellation widmen sich die in diesem Band versammelten Beiträge, die auf die Konferenz zum Thema "Leib, Körper, Gemeinschaft und die Krise der Moderne. Philosophische Anthropologie zu altem und neuem Rassismus" zurückgehen, die in München im Oktober 2013 von der Helmuth-Plessner-Gesellschaft, der Eric-Voegelin-Gesellschaft und dem Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft veranstaltet wurde. Die Tagung, an der Politikwissenschaftler, Philosophen, Soziologen, Wissenschafts- und Philosophiehistoriker teilnahmen, geht auf die Initiative von Mario Marino zurück, einem anerkannten Spezialisten für die Anthropologien von Herder und Gehlen. In einem Artikel aus dem Jahr 2013, der in diesem Band wiederveröffentlicht wird, hat Mario auf die Bedeutung der Konstellation hingewiesen, die aus Voegelins Buch Rasse und Staat von 1933 und aus den beiden zeitgleich erscheinenden positiven Besprechungen dieses Buches von Helmuth Plessner und Arnold Gehlen gebildet wird. Wichtig sind in diesem Zusammenhang, neben dem anthropologisch-philosophischen Ansatz Max Schelers in der Stellung des Menschen im Kosmos, auf dem sich die Perspektive von Rasse und Staat bezieht, auch Voegelins Buch Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, (1933) die von Plessner 1937 in Groningen gehaltene Antrittsvorlesung Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie sowie Gehlens grundlegendes systematisches Werk Der Mensch und seine Fragmenten zu einer "Philosophie des Nationalsozialismus", die er 1933 ausgearbeitet und 1934 aufgegeben hat. Ausgehend von der Analyse dieser historisch-systematischen Konstellation rekonstruiert der Tagungsband in philosophisch fundierter Weise wichtige Aspekte der Debatte zu Rassenidee, Rassismen und Rassentheorien im Horizont der Philiosophischen Anthropologie. Er verdeutlicht damit die Rolle, die Voegelin in dieser Debatte spielt, und leistet zugleich einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des noch wenig untersuchten Verhältnisses zwischen Voegelin und der deutschen Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Zu den Beiträgen, die den Anthropologien von Voegelin, Plessner und Gehlen gewidmet sind (von Joachim Fischer, Mario Marino, William Petropulos, Michael Henkel, Wolfgang Bialas, Walter Seitter und Karl-Siegbert Rehberg; aus Platzgründen muss sich diese Besprechung auf einige dieser Beiträge beschränken) kommen zwei Texte hinzu, die sich mit der Rassenthematik in der Anthropologie Erich Rothackers und der Rolle des Rassenbegriffs in der Medizinethk des Nationalsozialismus befassen (Guillaume Plas und Florian Bruns). Der Band endet mit einem Beitrag von Ugo Balzaretti, der die Positionen von Voegelin und Foucault aus biopolitischer und symbolischer Perspektive vergleicht.

Der Beitrag von Mario erklärt die Bedeutung des Themas Rasse in der philosophischen Anthropologie und stellt des Forschungsstand zum Verhältnis zwischen Voegelin und der deutschen Philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts dar. Angesichts der zentralen und kontroversen Stellung des Rassengedankens in der westlichen Anthropolgie seit Mitte des 18. Jahrhunderts (man denke z.B. an die Herder-Kant-Forster-Kontroverse um die Anwendung und Bestimmung des Rassenbegriffs) ist es fast unmöglich, so Marino, die Geschichte des modernen anthropologischen Denkens zu behandeln, ohne den Themenkomplex von Rasse und Rassismus zu erörtern. Die politischen und menschlichen Implikationen des Thwemas Rasse in der deutschen Geschichte in der Zwischenkriegszeit und das mögliche Wiederaufleben verschiedener Formen von Rassismus in der aktuellen Welt machen das Rassethema zu einem geeigneten Thema für eine Überprüfung des kritischen Potentials der Philosophischen Anthropologie. Unter Bezugnahme auf einige der wenigen Studien, die sich mit dem Verhältnis zwischen Voegelin und der deutschen Philosophischen Anthropologie befasst haben, nämlich die von William Petropulos uhnd Joachim Fischer, identifiziert Marino zwei Themenkomplexe: den einer Interpretation des Rassengedankens im Lichte einer im anthropologisch-philosophischen Sinne orientierten Geistesgeschichte und den des Selbstbildungs- und Selbstlegitimationsprozesses der Philosophischen Anthropologie. Was Voegelin, Plessner und Gehlen in geistesgeschichtlicher Hinsicht verbindet ist eine Auffassung der Moderne als Prozess der Verwissenschaftlichung und der Verweltlichung. Aber wenn Plessner die Frage nach Rettung und Wiederherstellung der menschlichen Würde innerhalb des Horizontes der entzauberten Welt der Moderne stellt, will Voegelin eine "Offensive der Transzendenz anführen, indem er die religiöse Transzendenzerfahrung als ewige Grundlage des Bewusstseinslebens sowie des Aufbaues und der Bestimmung des politischen und kollektiven Lebens annimmt" (S.39). Betrachtet man dagegen die Rolle, die das Rasseproblem in Bezug auf die Begründung der philosophischen Anthropologie spielt, so tritt der Versuch, den Leib-Seele-Dualismus zu überwinden, als zentral hervor. In dieser Perspektive spielen die auf der Grundlage menschlicher Erfahrungen entstandenen Körpervorstellungen, die Voegelin "Leibideen" nennt, eine wichtige Rolle in der Genese und im Selbstverständnis des Staates und der Gemeinschaft. Die Reduktion des Menschen auf seine tierisch-natürliche Schicht, die Voegelin und Plessner als Folge des für die Moderne charakteristischen Prozesses der Naturalisierung und Verweltlichung verstehen, entspricht die Ersetzung der Leibideen von Blut und Blutsverwandtschaft und des Corpus mysticum Christi durch die Idee der Rasse. Der philosophischen Anthropologie von Voegelin, die eine Theorie der Symbolisierung und geistigen Erfahrung von Ordnungen ist, fügen Plessner und Gehlen, "eine Umformung der Idee von Rasse gegen die biopolitische Rassenidee der Moderne" (S.47) zu verwirklichen, die in ihren Augen eine mythische, positive Variante der Rassenidee als politische Idee bzw. Leivbidee wirkt, und darin erkennt Marino einen kritischen Potential der philosophischen Anthropologie.

Joachim Fischer stellt eine Verbindung zwischen dem Begriff der "exzentrischen Positionalität" (Plessner) und dem der "Leibidee" (Voegelin) her, indem er im zweiten einen komplementären Begriff zum ersten sieht. Wenn der Mensch, wie es im Begriff der exzentrischen Positionalität zum Ausdruck kommt, ein konstitutiv offenes und doppeltes Verhältnis zu seinem Körper hat, der von innen erfahrbar (Leib) oder von außen repräsentiert (Körper) ist, braucht er, um diese bioanthropologische Konstellation historisch leben zu können, in Bezug auf sich selbst und auf andere, eine "orientierende Leibidee". Durch die Tätigkeit des Geistes und seiner Vorstellungskraft verwandelt sich der Körper so in ein "corpus mysticum", d.h. in einen gemeinschaftsstiftenden Mythos. Ausgehend von dieser systematischen Perspektive geht Fischer auf andere mögliche Leibideen ein, deren konstitutive Funktion auf gesellschaftlicher Ebene identifiziert werden kann, etwa die des Totemismus (die archaische Gesellschaften kennzeichnet), die der Menschenwürde (die mit dem Begriff des Habeas Corpus eine "Urszene" der Menschenrechte in modernen Gesellschaften bildet) und jene Idee, die sich in zeitgenössischen Gesellschaften in der Semantik von Nachhaltigkeit in Bezug auf die ökologische Integration von Gesellschaften ausdrückt.

Voegelins systematische Untersuchung zur Rassenproblematik, entsteht im Rahmen seiner Arbeit an einer umfassenden Staatslehre, in der Rasse und Staat den systematischen Teil und Die Rassenidee in der Geistesgeschichte den historischen Teil bilden. Der Beitrag von William Petropulos betrachtet den systematischen Teil und beschäftigt sich mit der Rolle des Rassengedankens im Kontext der politischen Wissenschaft. Zwei Themen sind dabei bedeutsam: Einerseits handelt es sich um eine "adäquate Wissenschaft vom Menschen", andererseits um eine "adäquate Auffassung der geistigen Erfahrungen, die im Aufbau der Gesellschaft wirksam sind" (S. 68). Petropulos sieht in Voegelin eine platonische Intention: die Wurzeln des Staates im Wesen des Menschen zu suchen. Die Staatsideen - und darunter auch Leibideen wie die der Dynastie oder der Rasse - machen keine wissenschaftlichen Aussagen über politische Wirklichkeit, sondern spielen eine Rolle in der praktischen Gestaltung von Gemeinschaften und sind stets in eine Ordnung eingebettet, die Voegelin - im Anschluss an Schelling - "Mythos" nennt. Den naturwissenschaftlichen Ansatz in der politischen Wiissenschaft lehnt Voegelin zugunsten eines geisteswissenschaftlichen Ansatzes ab, der Leib und Seele des Menschen als geistdurchwohnte Seinsstufen sieht und den Menschen von den geistigen Seinsstufen aus betrachtet. Das Neue an der modernen Vorstellung von Rasse liegt in ihrem Anspruch, Wissenschaft zu sein. Gegen die naturalistische Rassenauffassung, die er für abergläubisch hält, behauptet Voegelin, dass das Menschen- und Gottesbild einer Gesellschaft aus der Tiefe religiöser Erfahrung entstehe. Nach dieser Auffassung liegt der Seinsgrund der Völker im Mythos, der Kern des Mythos ist die religiöse Erfahrung, und eine adäquate Wissenschaft vom Menschen kann "nur im Rahmen des differenziertesten Mythos, innerhalb des Glaubenssymbol der universalen Menschheit" (S.82) entstehen. Aus dem Vergleich des Ansatzes von Rasse und Staat (1933) mit dem der Politischen Religionen (1938) zieht Petropulos den Schluss, dass die in diesen Werken behandelten Themen den Rahmen der systematischen Fragestellungen, die Voegelin seit den 1950er Jahren, insbesondere in seinem monumentalen Werk Order and History, entwickelt.

Die Bedeutung der beiden Rassenbücher für die weitere Entwicklung des Denkens Voegelins ist der Beitrag von Michael Henkel gewidmet. Henkel betrachtet den Aufsatz The Growth of the Race Idea von 1940 als Bezugspunkt, in dem er einen "bedeutenden Wandel" aufzeigt, in dessen Folge Voegelin das Interesse an der Rassenidee verliert. Dieser Wandel betrifft im Wesentlichen die Interpretation der Geschichte des Rassendenkens im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Sowohl in Die Rassenidee als auch in dem Aufsatz von 1940 stellt Voegelin die Geschichte des Rassendenkens als Verfallsgeschichte dar. Aber was sich gewandelt hat, ist das Kriterium, an dem dieser Verfall gemessen wird: Handelt es sich hier im ersten Fall um eine "klassische Form" des Rassendenkens, die sich sowohl bei Leibnitz, Wolff, Herder und Kant als auch bei zeitgenössischen Autoren wie Ludwig Ferdinand Clauß und Othmar Spann findet, so geht es im zweiten Fall um eine Geschichtsphilosophie, derzufolge die Geistesgeschichte der Neuzeit - als Säkularisierungsgeschichte verstanden - einen Verfallsprozess darstellt. Die verschiedenen Varianten des Rassendenkens sind Verfallsphänomene, weil sie mit einer säkularen Weltanschauung verbunden sind, die im Denken von Thomas Hobbes Ausdruck findet, um das Verhältnis des Menschen zur Transzendenz, die die entscheidende Quelle der menschlichen Ordnung darstellt, unzureichend berücksichtigen oder leugnen. Nach 1940 verschwindet der Rassegedanke aus Voegelins Horizont. Obwohl einige Elemente davon in seiner späteren Entwicklung erhalten bleiben (wie die Verwendung des Erlebnisbegriffs, die Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlicher Theorie und Symbolen, die ihrerseits erst Wirklichkeit konstituieren, die Vorstellung vom Menschen als an allen Seinsbereichen teilhabendes Wesen und die Idee vom religiösen der Gemeinschaftsbildung), gibt Voegelin die entscheidenden Positionen auf, die er in den beiden Büchern von 1933 entwickelt hatte. "Wir müssen vermuten - so Henkel - dass er dies aus der Einsicht heraus tat, mit seiner Konzeption von Leib- und Rassenidee letztlich in eine politiktheoretische Sackgasse geraten zu sein" (S.108).

Das Thema Körper bei Voegelin und Plessner steht im Mittelpunkt des Beitrags von Walter Seitter. Unter dem Titel "Somatismus in philosophischen Anthropologien" unterstreicht er die Bedeutung, die Voegelin und Plessner der "somatischen Schicht" des Menschen beimessen. Einerseits findet sich bei Plessner eine Kritik am Kantischen Gegensatz von Vernunft und Sinnen und andererseits konzentriert sich Voegelins Versuch, den Staat in der Perspektive einer philosophischen Anthropologie zu gründen, "auf das Segment 'Leiblichkeit'" (S. 136). Daher müssen sich die normativen Vorstellungen, die für die Konstruktion einer politischen Gemeinschaft erforderlich sind, auf die leibliche Sphäre beziehen, da sie dem gesamten Wesen des Menschen entsprechen müssen. In der Plessnerschen Rezension von Rasse und Staat, in der er den "hohen Grad von Zustimmung, ja Empathie" (S. 138) mit Voegelin hervorhebt, identifiziert Seitter die Erörterung zweier Arten von Fragen: Einerseits solche, die erkenntnistheoretische Aspekte betreffen, und andererseits solche, die mit der normativen Dimension zu tun haben. An diesen letzten Aspekt knüpft Plessners Würdigung der Kritik Voegelins am Rassenmaterialismus und seine positive Bewertung der klassischen Form der Rassentheorie an, eine Form, die nach einigen Voegelinschen Behauptungen der dreißiger Jahre in der Gestalt Goethes als Repräsentant eines "schönen Ideals" Ausdruck findet. Die Rassenideen sind Voegelin zufolge, wie Plessner betont, Ideale, Wertideen, besitzen den Charakter von "politischen Wunschbildern", gehen daher "über die deskriptive Dimension hinaus und zum Normativen und Optativen über" (S. 140). In diesem Sinne sieht Seitter in Plessners Affirmation des Adels als vorbürgerlichem Ideal eine Konvergenz mit der Auffassung Voegelins. Abschließend weist Seitter darauf hin, "dass sich beide Theoretiker in den folgenden Jahrzehnten von diesen Positionen abgesetzt haben" (S. 144). Indem Voegelin in The New Science of Politics (1952) das anthropologische Prinzip festhält, wonach die Struktur und politische Qualität einer Gesellschaft von dem in ihr dominierenden Menschentyp abhängen, verläßt er seine bisherige charakterologische Theorie. Und auch bei Plessner gibt es nach dem Krieg keine Spuren mehr von einem "normativen Somatismus". Dies bedeute allerdings nicht, so das Fazit von Seitter, "dass die Probleme, die seinerzeit mit 'Rasse' oder 'Rassismus' formuliert bzw. politisiert worden sind, verschwunden sind" (S. 144).

Massimo Mezzanzanica, Mailand


Copyright © 2020 by Verlag Traugott Bautz GmbH