Gérard Raulet

Das kritische Potenzial der philosophischen Anthropologie

Studien zum historischen und aktuellen Kontext

Philosophische Anthropologie Themen und Positionen, Band 15

Rezension


Das Verhältnis zwischen der philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie ist, nachdem zu den Lebzeiten ihrer Vertreter - im Falle der Kritischen Theorie der sogenannten ersten Generation – die Fronten öffentlich geklärt wurden, während zugleich privat freundschaftliche (Helmuth Plessner und Theodor W. Adorno) oder wenigstens respektvolle Kontakte (Adorno und Arnold Gehlen) gepflegt wurden, maßgeblich durch Jürgen Habermas und Axel Honneth über Jahrzehnte hinweg im Sinne einer keine weiteren Nachfragen erfordernden Inkompatibilität verfestigt worden. Dies hat sich in den letzten zehn Jahren durch Arbeiten der jüngeren akademischen Generationen geändert, und Gérard Raulets Buch sollte durch die profunden Kenntnisse des Autors dazu beitragen, dass die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Kritischer Theorie und Philosophischer Anthropologie sowie die Evaluierung der letzteren, vor allem in der Scheler’schen Ausprägung, den von Adorno und Habermas vorgenommenen Weichenstellungen noch stärker entzogen werden.

Raulets Buch, das zwischen 2002 und 2020 unabhängig voneinander entstandene, aber ein systematisch erschließbares Ganzes ergebende Texte enthält, folgt jedoch nicht einfach einem Trend, sondern enthält Besonderheiten und eigenständige Akzentuierungen, die sich so bei keinem anderen der genannten Autoren finden. Zum einen finden sich in Raulets Buch diverse Engführungen der deutschen mit der französischen Geistesgeschichte, die in durchaus unterschiedlichen Verzweigungen letztlich bis zu Baruch de Spinoza als ideengeschichtlicher Quelle maßgeblicher naturphilosophisch-ontologischer Motive zurückreichen; zum anderen aber knüpft Raulet systematisch vor alleman Max Scheler an, gleichwohl Plessner auch diskutiert wird, während Gehlen ausschließlich Gegenstand kritischer Bemerkungen ist. Die Leitfiguren der Kritischen Theorie sind - das ist weniger überraschend als die vorrangige Anknüpfung an Scheler in der Philosophischen Anthropologie - Adorno, Max Horkheimer und Walter Benjamin. Wie Raulet in der ideengeschichtlichen Einrahmung des Vergleichs bis auf Spinoza zurückgeht, so überschreitet er die Vergleichskonstellation in origineller und überraschender, aber prinzipiell nachvollziehbarer Weise hin zu Gilles Deleuze. Diese beiden Aspekte, die entschiedene Anknüpfung an Scheler einerseits und die ideengeschichtliche Einbettung des Vergleichs zwischen philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie andererseits, bilden den Leitfaden der folgenden Überlegungen, die wiederum einen skizzenhaften Überblick geben sollen, der eine Lektüre des Buches erleichtert und eine solche motiviert.

Ein Buch, das im Titel vom "kritischen Potential der philosophischen Anthropologie" spricht, muss eine Antwort auf die Frage geben: Der philosophischen Anthrolopologie welcher Spielart? Und welcher nicht? Gehlen scheidet Raulet zufolge aus, weil er den Handlungsprimat "in ein Grunddogma" verkehrt habe, "das schließlich nichts mehr erklärt" (102). Ein solches Grunddogma ist das Resultat einer methodischen Selbstauslieferung an die Empirie, die nicht mehr Korrektiv ist, sondern Direktiven erteilt. Der Tatsache entsprechend, dass Raulet sich hier Plessners Kritik an Gehlens Methodologie anschließt, wird Plessner ein Text des Bandes vollständig gewidmet, in dem auch das Verhältnis seiner Philosophie zu der Schelers anhand eines übergreifenden zentralen Motivs von Raulets Zugang zur philosophischen Anthrolopologie diskutiert wird. Das Thema, an dem Plessner und Scheler sich mit den Mitteln der Phänomenologie abarbeiten, ist das Problem der neuzeitlichen Subjektivierung (95). Zugleich wollen beide aber auch "die Phänomenologie überbieten" (94), Scheler mit den Mitteln einer "Wespenphänomenologie" (ebd.), die eine Überbietung der bisherigen Phänomenologie mit prinzipiell phänomenologischen Mitteln und somit eine innerhalb der Phänomenologie bzw. eine selber phänomenologische wäre; Plessner im Überstieg zu einer Ontologie, unter der er Raulet zufolge "eigentlich nichts anderes versteht als eine philosophische Anthropologie, die ihr Versprechen hält, der Gesamtheit und Verschiedenheit der seienden Welt durch die Herausarbeitung eines weder naturwissenschaftlich beschränkten, noch transzendental abstrakten kategorialen Rahmens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen" (ebd.). Solche Gerechtigkeit hält dem philosophischen Ethos der Phänomenologie die Treue, ohne diese als Phänomenologie realisieren zu können bzw. zu wollen. Während Raullet zentrale Überlegungen Schelers im "Spannungsfeld von Erkenntnistheorie und Ontologie" (114) verortet, setzt Plessner sich mit diesen Fragen zwar auch auseinander, versucht aber in den späteren Partien der Stufen vor allem, der "Eigenlogik des Organischen" (98) kategorial auf die Spur zu kommen. Wie sich darin Ontologie und eine Phänomenologie des Lebendigen verzahnen, fasst Raulet konzise zusammen: "Die Seinsstufen erscheinen dann als Organisationsniveaus der Grenzregulierung" (100). Raulets Ausführugen zu Plessner beschränken sich, von Bemerkungen zu seiner späteren Rollentheorie abgesehen, weitgehend auf die Stufen und klammern, trotz der Pluralverwendung in der Formulierung der Frage, "ob die Philosophische Anthropologie bei ihren Gründungsvätern nicht eher eine originelle Geschichtsphilosophie entworfen hat" (9), die Beziehung seiner Anthropologie zur Geschichtsphilosophie aus.

Gerade das Verhältnis zwischen philosophischer Anthropologie und Geschichtsphilosophie ist eines der zentralen Motive von Raulets Scheler-Interpretation. Scheler stellt Raulet zufolge die "Alternative zur scheinbaren Aussichtslosigkeit einer dialektischen Geschichtsphilosophie [dar], die damals schon nicht mehr bereit war, sich mit Hegel, oder gar mit Marx zu begnügen" (14). Sie tut dies nicht sekundär, etwa durch eine Anwendung einer fertigen Anthropologie auf Probleme einer schulddisziplinär aufgefassten Geschichtsphilosophie, sondern dadurch, "dass sie das Vorhaben der Philosophischen Anthropologie deshalb als Antwort auf eine historische Krise behandelt, weil die Geschichte für sie den Verwirklichungsraum des Menschlichen bildet" (11). Sie steht in diesem Verwirklichungsraum aber nicht als ein in sich gegen diesen Abgeschlossenes, das ihn als ihr von außen vorgegebene Aufgabe vorfindet, sondern der Verwirklichungsraum Geschichte und die genuin humane Dimension des Menschseins selbst sind in der Historizität des letzteren aufeinander hingeordnet. Philosophisch fassen lässt sich dieser Sachverhalt nur, weil Scheler das kantische Erbe, das Raulet im Problem der "transzendentalen Affinität" (12) als eines theoretischen Desiderats benennt, dem die philosophische Anthropologie Genüge zu leisten habe, mit der geschichtlichen Verfasstheit geistig-personaler Individualität verschränkt, wie sie einen praktischen Lebenshorizont begründet, von dem sie zugleich getragen ist. Scheler, so Raulet, "radikalisiert die Historizität, er dehnt sie sogar auch auf die apriorischen Formen des Denkens aus" (11). Geschichtlichkeit und Apriorisches konvergieren in der Erfahrung, deren phänomenologische Elaborierung sowohl der Lösung dieses systematischen Problems der transzendentalen Affinität in der Verklammerung des Erkennens mit der geschichtlichen Existenz dient als auch, auf der Ebene der theoretischen Konzeptualisierung, der Lösung der Probleme der neuzeitlichen Erkenntnistheorie, auf die nicht nur Scheler, sondern auch Plessner und Martin Heidegger mit den Mitteln der Phänomenologie neue und den gordischen Knoten der Subjekt-Objekt-Opposition zerhauende Antworten zu geben versuchten. Erfahren wird nicht vom Subjekt ein Objekt, sondern von der Person die geschichtliche Welt, während die Person zugleich sich in der geschichtlichen Welt erfährt, ohne dass die Frage nach dem Ort der als Sphäre verstandenen Erfahrung, wie die Subjekt-Objekt-Unterscheidung mit ihrer Lokalisationsproblematik nahelegt, eine Rolle spielte (vgl. 122). Schelers Antwort auf die kantische Fragestellung gibt somit nicht nur die Mittel zur Verklammerung von Geschichte und Erkenntnis(-theorie) an die Hand, sondern entfaltet begrifflich ihr Verklammertsein.

Raulet zeigt auf, dass es Scheler um die Überwindung einer zentralen Aporie bei Kant geht, nicht aber um die Verabschiedung des kantischen Projekts per se; im Gegenteil wird "bei Scheler die Vernunft [...] zum eigentlichen Anliegen der anthropologischen Forschung" (22), allerdings mit der Zielsetzung, "alle von Kant bewusst offen gelassenen und zumeist der praktischen Philosophie (oder der Theologie) überantworteten Probleme, die sich im Spannungsfeld von Erkenntnistheorie und Ontologie stellen, in Angriff zu nehmen" (114). Eines dieser Probleme ist der Widerstreit zwischen Naturalismus und Kulturalismus. Wie die Erfahrung weder im Subjekt noch im Objekt verortbar ist, so schlägt Scheler Raulet zufolge auch hier einen Mittelweg ein: "Für den Naturalismus, den er verwirft, weigert sich der Phänomenologe Scheler im Kulturalismus einen Ersatz zu finden" (17-18). Woran beide scheitern, ist die Erschließung dessen, was sie begründen zu können beanspruchen, aus der Grundstruktur des Menschseins, die naturalistisch oder kulturalistisch deduzierbar sein müsste, sollte eine dieser Positionen als ihren Widerpart ausschließende wahr sein können. Dementsprechend besteht auch der "besondere Wert bzw. die besondere Wertordnung der menschlichen Kultur nicht in künstlichen Fähigkeiten, die die natürlichen Begabungen kompensieren oder verbessern, sondern gerade in der Künstlichkeit selbst" (18-19), die eine anthropologische Qualität ist, die sich der philosophischen Anthropologie gemäß ihrer Phänomenologischen Verwurzelung in einer "Wesensontologie" (26, Hervorh.i.O.) erschließe. Das Wesen, das hier erschlossen wird, ist das der menschlichen Person, die weder bloße "Vernunftperson" (119) noch durch einen Geistaufsatz veredeltes Tier, sondern als Seinseinheit personaler Akte weder auf die affektiv-emotionale Seite des Menschseins reduzierbar noch einer davon sich in toto emamzipierenden Vergeistigung fähig ist. Die Rückbindung der Philsophischen Athropologie an den Vollzugssinn der personalen Existenz führt Raulet zu folgender Einsicht: "Der philosophischen Anthropologie kommt in Schelers Denken die merkwürdige Bedeutung einer Grundwissenschaft zu, die bewusst keine Grundlegung leistet" (156) und keine leisten kann, will sie nicht den personalen Vollzug, dem sie selbst erwachsen ist, hypostasieren und fundamentalisieren. Sie ist aufgrund dieser strukturellen doppelten Negation von "Aufwärts"- (Spiritualismus) und "Abwärts"-Reduktionen (Naturalismus) wesentlich eine negative Anthropologie: "Schelers "negative Anthropologie" stellt insofern das zoon politikon Mensch vor die politische Aufgaben, die aus seiner Emanzipation von der Natur folgen" (20).

Dieses sensible Porträt Schelers, das zentrale Motive seines Denkens artikuliert, ohne dieses zu entproblematisieren - was aber auch ein Desiderat erzeugt, denn der Begriff der negativen Anthropologie etwa wird hier inauguriert, ohne geklärt zu werden -, lässt systematisch triftig erscheinen, was auf der nominellen Ebene (z.B. durch den Begriff der Wesensontologie) vordergründig unmöglich erscheinen muss, nämlich eine Überwindung des dogmatisch verfestigten Antipodentums von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie. Raulet geht in seiner Spurensuche anthropologischer Motive weite Wege und setzt bei Friedrich Schiller an, der "zweifelsohne der erste gewesen [ist], der Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung schon radikal genug vorgegriffen hat" (446). Raulet zeigt konzise auf, dass und wie "die psychologisch-philosophischen bzw. 'anthropologischen' Überlegungen [...] den eigentliche Boden von Schillers Ansatz geprägt haben" (173), wie sich am Begriff des Formtriebs und dem Imperativ der Kultivierung zeigt. Der Benjamin-Essay vertieft diese archäologischen Bohrungen durch die Konturierung einer "Philosophie des Leibs" (341) und des Ausdrucks bei Benjamin, die in dem auf Adorno und Horkheimer vorgreifenden und einen explizit hergestellten Konnex zu Scheler herstellenden Satz gipfelt: "Nicht die Vernunft (oder der Verstand), sondern der Leib erweist sich als der eigentliche Träger der Mimesis" (ebd.). Diese Mimesis wird im Allegorie-Begriff eingeholt; an Allegorien könne die "Spezifität einer historischen Dialektik der Natur" (367) abgelesen werden.

An dieser Dialektik arbeiten sich Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung ab, die in Raulets Analyse eine zentrale Stellung einnimmt, da sie "den Brennpunkt der epistemologischen Wende bildet" (263), den die Kritische Theorie in ihr mit der "Hinwendung zur Ethnologie und zur Anthropologie" (ebd.) vollziehe. Raulet unterlässt es jedoch nicht, treffend zu erwähnen, "dass der wissenschaftliche Status jener Kenntnisse in der Dialektik nicht so wichtig ist wie deren Nutzung" (283, Hervorh.i.O.). Von wesentlich größerer systematischer Bedeutung ist das "'Eingedenken der Natur im Subjekt', das zugleich das zentrale Motiv der Dialektik der Aufklärung und der Konvergenzpunkt zwischen Adornos philosophischem Programm und der Psychoanalyse ist" (379). Als das alle theoretischen Integrationsbemühungen anleitende und theoretisch zu bewältigende Problem macht Raulet aus, mittels einer "Archäologie der Rationalität, die tiefere Strukturen der Herrschaft freizulegen versucht" (261, Hervorh.i.O.), Herrschaftskritik mit einer philosophischen Durchleuchtung der "Radikalität eines dialektischen Lebens der Triebe (bzw. einer Dialektik des Lebens innerhalb der Triebe)" (378, Hervorh.i.O.) zu verbinden, die schließlich in einem Kynismus gipfelt, der die "Naturverfallenheit" des Menschen anerkennt (455) und sie gegen die naturvergessene Naturbeherrschung in Anschlag bringt, um zugleich im Eingedenken der Natur im Subjekt derselben und der "Entfremdung vom Leib" (454) produktiv zum Bewusstsein zu verhelfen. Die direkte Verbindung zur Anthropologie besteht darin, präsent zu halten, dass "der Anteil der ersten Natur an der Dialektik, durch welche das Individuum sich zum autonomen Subjekt bildet, nicht zu leugnen" (392) ist. Wenigstens kurz erwähnt werden soll hier auch, dass Raulet auf originelle Weise eine Linie von der Dialektik der Aufklärung zum Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari darüber zieht, das letzterer "auf eigene Weise genau denselben dialektischen Komplex von Individualisierung und Aufhebung des Individuums" (417) behandle. Dies ist auch wichtig, weil Deleuze den Abschluss einer ungeraden, in diversen Verästelungen die Philosophische Anthropologie mit der Kritischen Theorie verbindenden Linie bildet, die ihren Ausgang von Spinoza nimmt.

Zwei Linien lassen sich in Raulets Buch ausmachen, ohne explizit als solche gezogen zu werden: eine, die zur Philosophischen Anthropologie, und eine, die zur Kritischen Theorie führt, wobei beide später und außerhalb ihrer eigentlichen Traditionslinien in Deleuze und Guattari konvergieren. Die genuin anthropologische Linie ließe sich auch als Spinoza-Nietzsche-Bergson-Scheler-Linie bezeichnen, die über Spinozas Conatus-Konzept zum Begriff des Lebens führt, während die Linie der Kritischen Theorie sich als Spinoza-Marx-Nietzsche-Benjamin-Adorno-Linie beschreiben lässt, die, ebenfalls vom Conatus-Konzept ausgehend, in den Begriff der, wenn auch verdrängten, Natur mündet.

Der Begriff der "Spinoza-Nietzsche-Linie" von Deleuze greift Raulet explizit auf (421), weist aber auch auf Spinozas Einfluss auf J.G. Herder hin (146), während Friedrich Nietzsche unweigerlich auf Henri Bergson (und umgekehrt) führt, worauf auch Scheler Bezug nehme (60). Raulet hebt hervor, dass "Schelers Abhandlung 'Zur Idee des Menschen' [...] offensichtlich genau demselben Argumentationsplan" (146) folge wie Herders Sprachabhandlung, die über die Creatio-continua-Figur bei Herder mit Spinozas Allkraft bzw. conatus bei aller Unübersetzbarkeit und Gebrochenheit verbunden bleibt, allerdings mit dem markanten Unterschied, dass Scheler Spinozas Konzept durch den Drangbegriff dynamisiere (204). In Schelers Lebensbegriff findet allerdings eine deutlich gebrochene Vollendung statt; gebrochen, weil Spinozas conatus sich gerade nicht in Schelers Personbegriff übersetzen lässt und Nietzsches und Schelers Wege sich am Streitpunkt der Religion scheiden (217-218).

Die "Interpretation von Spinozas Monismus als Vorwegnahme des Marx'schen Materialismus" (441) ließe sich philologisch detaillierter ausführen, als Raulet dies tut, wenn man den Fokus darauf richtet, in welcher Weise und mit welcher Frequenz Adorno den Marx'schen Begriff des Bewegungsgesetzes aufgreift. Die Verwandtschaft zwischen Adorno und Nietzsche, aus der Adorno ohnehin keinen Hehl macht, wird von Raulet an passender Stelle und im Rahmen der Konturierung der kynischen Motive in Adornos Denken explizit zur Sprache gebracht (440). Benjamins Ausdruckstheorie, in der der Leib eine tragende Rolle spielt (322), bereitet mit ihrer Zurückführung des "mimetische[n] Vermögen[s] auf die phylogenetischen Anfänge" (ebd.) die Verschmelzung des Lebensbegriffs mit dem spezifisch psychoanalytischen Konzept der verdrängten Natur vor, das dann bei Adorno in der Ausformulierung etlicher kritischer Motive (z.B. Naturbeherrschung, Versöhnung, Eingedenken der Natur im Subjekt) eine tragende Rolle spielt. Explizit vertritt Raulet die seinerseits systematisch und ideengeschichtlich validierte These, dass eine "unterschwellige Lebensphilosophie [...] die philosophische Anthropologie der Dialektik der Aufklärung begleitet bzw. untermauert" (455). Insofern ist dann auch die Vollendung der Genealogie mit dem Anti-Ödipus konsequent, da Raulets These, "dass der organlose Körper sich zu den Wunschmaschinen wie die spinozistische Substanz zu ihren Modi verhält, wobei Spinozas Ethik dort als Gründungsakt des maschinellen Paradigmas erscheint" (416), in einer kulanten Lesart einiges für sich hat. Der Spinozismus nimmt dann die Gestalt einer Spezifikation des Materialismus zur biotischen Wunschmaschine und zur Verschmelzung des bios mit der Politik in der Biopolitik an. Mit genuin kritischen Motiven verbindet dieser Spinozismus sich, wenn gegen die zur Biomacht transformierte Macht in einem "Subjektivierungsvorgang [...] die Macht des Lebens geltend" (423) gemacht werde.

Raulets Buch erfreut durch die Belesenheit und ideengeschichtliche Beschlagenheit des Autors sowie durch seine systematische triftige und Beachtung verdienende Anknüpfung an Scheler, der für ein anderes Bild der Moderne als das seit Jahrzehnten üblicherweise vermittelte steht. Dementsprechend bringt Raulet Scheler mit Adorno statt mit Habermas ins Gespräch und knüpft an Alfred Lorenzer statt an Honneth an, der so manches an berechtigter Kritik einstecken muss (vgl. 347 ff.). Unterbestimmtheiten und offene Fragen können sich bei einem Band, der über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg verfasste Text vereinigt, leicht ergeben und verdanken sich dann eher der Anlage des Buches als dem mangelnden Kompositioswillen seines Autors. Exemplarisch seien hier nur zwei Fragen genannt, die offen bleiben und einer Beantwortung sowie einer Klärung ihres Verhältnisses zueinander harren: Markiert die Eingemeindung Deleuzes in die Anthropologie nicht gerade eine "Spinozisierung" derselben, die das Kernvorhaben Schelers, Natur- und Kulturseite der menschlichen Existenz im Begriff der Personalität zu versöhnen, sabotiert? Wie ist, wenn Scheler einerseits und Adorno andererseits Leitfiguren eines systematischen Weiterarbeitens innerhalb der Philosophischen Anthropologie und der Kritischen Theorie darstellen, konsequentiell zu bewerten, dass - insbesondere, was die Kritische Theorie angeht - dem Gegenwartsdenken in vielsagender Weise der systematische Auftrag erteilt wird, die denkerische Augenhöhe mit und die Arbeit an Ansätzen sich angelegen sein zu lassen, die aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen?

Sebastian Edinger


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