Pfarrer A. Kemnitzer

Ein Dorf im Großen und Ganzen

Eine pastorale Nouthesia für das 21. Jahrhundert

Rezension


Dem Verfasser dieser Besprechung fällt es schwer, die nötige Distanz zum Buch Adolf Kemnitzers zu finden: zu nahe liegen die Parallelen zwischen Woringen und dem Wohn- und Arbeitsort des Rezensenten (Holzschwang). Beide Dörfer lagen und liegen im südlichen Vorfeld und Territorium evangelischer Reichsstädte (Memmingen / Ulm), weit vorgeschoben in geschlossen katholische Herrschaftsgebiete. Beide Dörfer besitzen altehrwürdige Gotteshäuser, die die Verbindung in die vorreformatorische Zeit herstellen und bis heute das Ortsbild prägen. Beide Kirchengemeinden weisen Archive mit ausführlichen Pfarrchroniken und einschlägigen Dokumenten auf. Beide Ortschaften bekamen mit dem Ende des 2. Weltkrieges hunderte von katholischen Vertriebenen und Flüchtlingen zugewiesen, denen bis in Details auffallend genau dieselben Mentalitätsunterschiede zur eingesessenen Bevölkerung bescheinigt werden.

Die Besonderheit dieser Ortsgeschichte oder Chronik von Woringen im Allgäu wird im außergewöhnlichen Titel angedeutet. In einem kurzen Vorwort (Oktober 2013), kurz vor seinem Tod, schildert Pfarrer Kemnitzer sein Vorhaben: "Woringen ist keine Insel. Es teilt das Schicksal mit den Siedlungen zwischen Donau und den Allgäuer Alpen, zwischen Iller und Riß im Westen bis zur Wertach und zum Lech. Woringens Geschichte gleicht in seinen Hauptzügen der seiner Nachbarn in diesem geographisch-geschichtlichen Schicksalsverbund." ... "Das Anliegen dieses historischen Lesebuches ist, in den allgemeinen Linien, das ganz individuelle, charakteristische Geschehen in Woringen darzustellen. Das feststehende - Geologie, Geographie, Frühgeschichte - bilden dabei stets die Grundlage einer jeweiligen Gegenwart der Bewohner des Dorfes. Ihre Zeit vergeht und wird Vergangenheit. Neue Generationen kommen. Sie bauen auf altem Grund, der ihnen wie Neuland erscheint, ihr Werk. Auch dies wird altern und Neuem Platz machen. Die Wurzeln des heutigen Lebens reichen weit zurück in längst verklungene Zeiten." ... "Ein Buch wie dieses gibt Notizen einzelner Begebenheiten und Namen der Handelnden oder Leidenden wieder. Ihre Gefühle, ihre Träume, ihre Gedanken und Wünsche verschweigt es. Wäre es noch so viel - in aller Geschichtsschreibung schwingt leise der Schmerz mit, dass von Vorfahren irgendwann nicht mehr zu wissen ist als ein paar Daten und Taten, die als wichtig aufgezeichnet wurden."

Im Editorial der Herausgeber wird die Metaperspektive des Themas Pfarrchronik/pastorale Geschichtsschreibung ausführlich beleuchtet. Drei Kategorien zur Einordnung des Werkes werden angeführt: 1. "Ein Dorf im Großen und Ganzen" im Feld der Heimatbücher: Der Pfarrer als Archivar und Ethnograph. 2. "Ein Dorf im Großen und Ganzen" im Feld der evangelischen Hausbücher und ihre spezifische kirchliche Historiographie: Der Pfarrer als Geschichtsschreiber und Zeitdeuter. 3. "Ein Dorf im Großen und Ganzen" als Nouthesia: Der Pfarrer als Seelsorger und Redner an den historischen Verstand.

In den Rahmen der "Nouthesia" - Literatur ordnen die Herausgeber das Werk ein. "‚Ein Dorf im Großen und Ganzen' ist eine vernunftbestimmte, Daten und historische Fakten sortierende und ordnende Arbeit, die der Pfarrer als Seelsorger und als Redner an den historischen Verstand verfasst hat. (...) Was seine ermahnende Haltung den Lesern voraushat, entstammt seiner ausdauernden Bereitschaft, den Menschen und den Quellen zuzuhören - und seinem theologischen Nachdenken im biblischen Traditionsstrom. (...) Er legt damit eine spezifisch evangelisch-volkskirchliche Nouthesia vor." Die Herausgeber deuten zudem die Haltung des Verfassers: "Nicht dem (heroisch)-nihilistischen ‚Aushalten auf verlorenem Posten' gilt die Empathie von Pfarrer Kemnitzer, sondern dem unschuldig leidenden Opfer, dem ‚Anti-Helden', der durch sein unschuldig leidendes ‚Anti-Helden-Schicksal' zum eigentlichen ,Helden' der Kirchengeschichte wird."

Bezeichnend für die kritische Betrachtung der Geschichte, der gesellschaftlichen Zwänge und Benachteiligungen, sowie für die immer wieder eingestreuten Kurzkommentare Pfarrer Kemnitzers mit knappem, deutlichem Gegenwartsbezug soll ein Zitat zu Kindstötungen durch missbrauchte Mütter im 16. und 17. Jahrhundert sein: "Bis in das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hat es gedauert, dass uneheliche Schwangerschaften nicht mehr als Fluch und Schande galten. Paare müssen nicht mehr heiraten, wenn die junge Frau ein Kind erwartet. Pfarrer brandmarken die ‚gefallenen' Mädchen nicht mehr dadurch, dass sie ihnen bestimmte Sitze in der Kirche zuweisen, oder sie vom Abendmahl ausschließen. Keiner schreibt mehr ins Trauungsbuch voller Empörung: in Unehren schwanger, sich verunkeuschet usw. In den 1980er Jahren wurde ein Abtreibungsrecht im Deutschen Bundestag verabschiedet, das unter bestimmten Bedingungen einen Schwangerschaftsabbruch straffrei läßt. Beratungsstellen wollen in den Sorgen und Krisen ungewollter Schwangerschaft helfen." (S. 146).

Das Buch gliedert sich in zwei Hälften. Zu Beginn steht ein chronikalischer Durchgang durch die Ortsgeschichte, beginnend mit der Kelten-, Römer- und Alemannenzeit. Es folgt die Besitz- und Herrschaftsgeschichte des späten Mittelalters. Ausführlicher geschildert wird das Reformationsgeschehen und die Erhebung der Bauern im Zusammenhang mit den bedeutenden Impulsen, die die Reichsstadt Memmingen in diesem wegweisenden Jahrhundert setzte. Notzeiten und geschichtliche Einschnitte, besonders durch den Dreißigjährigen Krieg, werden deutlich gemacht. Dieser Chronikteil endet mit dem Ende des 1. Weltkrieges (S. 14-203). Der zweite Teil des Buches orientiert sich an den überlieferten Pfarrchroniken und beginnt mit einem Kapitel: "Dorfgeschehnisse von 1723 bis 1919". Darin finden sich Detailstudien zur Frömmigkeits- Sozial- und Sittengeschichte des Dorfes: Einführung der Konfirmation - Woringen im Pietismus; Probleme mit der Jugend (1887-1918), Der Pfarrer als Sittenwächter, Schwabenkinder / Kinderarbeit. Frühe Erwachsenenbildung und wachsender Wohlstand.

Einen breiteren Raum nimmt das Kapitel: Woringen und der Nationalsozialismus ein (S. 295-362). Die Quellenlage für ein kleines Dorf ist ergiebig und die Überlieferung hat sogar Pamphlete bewahrt. Die Auseinandersetzung mit "Deutschen Christen" in der Nachbarschaft Woringens lässt von der Zerrissenheit der evangelischen Kirche und den Spannungen unter der Bevölkerung einiges erahnen. Ein weiteres Kapitel gilt der Nachkriegszeit und beginnt mit den Veränderungen durch die Ankunft der Heimatvertriebenen aus den deutschen Ostgebieten.

Es schließt sich ein letztes Kapitel an (S. 386-411): "Die letzten 25 Jahre bis zum Ende des Jahrtausends" mit den Schwerpunkten Kindergarten, Kirchensanierung, Geläutesanierung, "Woringen als Brot für die Welt - Gemeinde". Eine Zusammenstellung, insbesondere der Quellen aus dem Archiv des Evang.-Luth. Pfarramts Woringen und der regionalen Verweisliteratur rundet die Darstellung ab.

Thomas Pfundner


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