Andreas Rössler

Denkwege eines freien Christentums

herausgegeben von Raphael und Werner Zager

Rezension


Das Buch ist den Veröffentlichungen des Stuttgarter evangelischen Theologen und Pfarrers Andreas Rössler zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2020 gewidmet. Dabei wird vor allem gewürdigt, dass er in dem Organ des "Bundes für freies Christentum" jahrzehntelang regelmäßig Beiträge geschrieben hat und zwölf Jahre lang selbst die Schriftleitung dieser Zeitschrift innehatte. Sein theologisches Denken ist vor allem durch Albert Schweitzer und Paul Tillich bestimmt.

Was ist mit "Denkwegen eines freien Christentums" gemeint? Diese fügen sich "zu einer Glaubenslehre im Geiste eines medialer liberalen Protestantismus" (12). Freiheitliche Religion ist in einem dreifachen Sinn zu verstehen: "Erstens wird man durch die Religion frei zu eigener Einsicht, Erfahrung und Vernunft." "Zweitens erfährt man durch die Religion innere Befreiung und Heilung." "Drittens praktiziert und fördert man Religionsfreiheit." (39)

Die freie Theologie steht immer wieder in Spannung zur "bibeltreuen Theologie"; denn "freie Theologie kann nur das anerkennen, was einleuchtet und überzeugt, was also im eigenen Wahrheitsbewusstsein einen Widerhall findet" (60). Wobei es ein "christliches Recht zu zweifeln" gibt (84).

Als zweiter wesentlicher Begriff taucht sehr bald in den Ausführungen von Rössler der Begriff der Wahrheit auf. Denn die Krise des Christentums ist eine Sprachkrise. Diese Krise lässt sich nur bestehen "im Sinne der Reformation als Rückbesinnung auf die biblische Botschaft und im Sinne der Aufklärung durch uneingeschränkte Wahrhaftigkeit" (20). Die Wahrheitsfrage spielt in der Religion überhaupt eine wesentliche Rolle. Rössler unterscheidet zwei Arten von Wahrheit: die Satzwahrheit, die der Wirklichkeit entspricht und die Vernunftwahrheit. Damit ist die Glaubenswahrheit, also die eigene "Tiefe der Wahrheit" gemeint. Es ist klar, dass der Wahrheit die eigene Haltung der Wahrhaftigkeit entspricht. Religion und Wahrheit hängen eng zusammen. Auch hängen in der Religion Liebe und Wahrheit eng zusammen. Dabei kann man nicht vom Besitz der Wahrheit ausgehen, sondern von Gottes Horizont aus kann es nur Annäherungen an die Wahrheit geben, wobei die Wahrhaftigkeit eine besondere Rolle spielt. Die Wahrheit ist immer umfassender, größer und tiefgründiger als wir begreifen können. Wenn es für uns keine letzte, umfassende Wahrheit gibt, kann es nur eine Fülle von Wahrheiten geben, wobei jeder die freie Wahl hat - oder es gibt überhaupt keine letzte Wahrheit.

Rössler zieht vier praktische Folgerungen aus dem Umgang mit der Wahrheit: alle Aussagen über Gott bleiben Hypothesen und Vermutungen; man wird bescheiden und bleibt unterwegs auf der Suche; die immer größere Wahrheit stellt uns in die Pflicht zur Toleranz; wir können uns von dem Grundvertrauen leiten lassen, dass sich die Wahrheit schließlich durchsetzen wird. Über allem steht der Satz: Religion hängt eng mit der Wahrheit zusammen. "Sollte die Frage nach der Religion gestorben sein, dann ist auch die Religion gestorben." (108)

Eine durchaus aktuelle Frage kommt in einigen Beiträgen auf: Ist Gott allmächtig? Wenn wir Gott als Macht der Liebe glauben, wieso müssen viele seiner Geschöpfe über die Maßen leiden? Wie weit Gott tatsächlich in das Geschehen eingreift, bleibt verborgen. "Gott wird das letzte Wort haben, auch wenn er jetzt manchmal zu schweigen scheint. Andernfalls wäre alles zum Verzweifeln." (143) Was für ein Gott ist es überhaupt, mit dem wir es zu tun haben? Mehr als gleichnishaft kann alles Nachdenken über Gott gar nicht sein. Wobei man heute, wo die verschiedenen Religionen miteinander in Konkurrenz treten, sagen muss: "das Prinzip der göttlichen Selbstmanifestation" (so Tillich) ist nicht auf Jesus von Nazareth eingeschränkt, sondern ist wirksam, "wann und wie und wo" (so Martin Werner) "es der Geist Gottes will" (182).

Noch einmal zurück zu den Denkwegen eines freien Christentums: Rössler ordnet das Christentum ein in ein Spektrum der Religionen - im Gegensatz zu Karl Barth - und nutzt die Unterscheidung Tillichs zwischen einer latenten und einer manifesten Kirche. Latente Kirche ist die eindeutig außerhalb der organisierten Gemeinschaft bestehende Kirche. Immer wieder plädiert Rössler für die Freiheit eines Christentums in dem Sinn, dass die Bibel kein Glaubensgesetz und keine Dogmensammlung ist. Vielmehr sind es Aspekte der Freiheit, die sich hier behaupten: Toleranz gegenüber anderen, "Freiheit zur Freiheit, Freiheit zur Wahrheit, Freiheit von Zwängen und Freiheit zur Liebe." Und mit dem Begriff der Wahrheit als unverzichtbarem Gehalt des Christentums bleibt der Autor auch bei dem, was bei aller unterschiedlichen Sprache als oberste Richtschnur für das Verständnis und die Freiheit des Christentums gilt.

Rösslers Aufsätze öffnen die Religion, das Christentum für ein freies Christentum. Seine Artikel verbinden die Wahrheit mit den biblischen Aussagen. Seine Argumentation hilft den Zeitgenossen, ihre Vernunft mit ihrem Glauben und ihren Zweifeln in Verbindung zu bringen. So bauen seine Artikel. immer wieder eine Brücke zu den Skeptikern und Zweiflern.

Klaus Schnabel


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