Andreas Rössler

Denkwege eines freien Christentums

herausgegeben von Raphael und Werner Zager

Rezension


Ein liberales Monument

Mit Sicherheit gibt es kein Mitglied des Bundes, das dessen Geschichte und Entwicklung so gut kennt wie er. Was die Dauer und Intensität seines Einsatzes für unsere Vereinigung angeht, kennt er kaum seinesgleichen: Andreas Rössler, über Jahrzehnte im Vorstand und in der Schriftleitung der Zeitschrift Freies Christentum tätig.

Anlässlich seines 80. Geburtstages, den er vor wenigen Wochen feiern durfte, haben nun Raphael und Werner Zager einen Sammelband herausgegeben. Dieser enthält eine Auswahl der Beiträge, die Andreas Rössler über sage und schreibe 50 Jahre hinweg in der Mitgliederzeitschrift veröffentlicht hat.

Bereits die Dauer dieser Publikationstätigkeit ist imposant. Noch eindrucksvoller ist die Fülle der Themen, mit denen sich Rössler in seinen Aufsätzen befasst. Diese Bandbreite spiegelt sich im Inhaltsverzeichnis: Dort sind insgesamt 16 Kapitel zu finden: Von "Religion" über (unter anderem) "Glauben und Denken", "Wahrheit", "Gott", "Jesus Christus" bis hin zum interreligiösen Dialog reicht das Spektrum. Dem freien Christentum ist ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch die Impulse, die sich der Kirchen-, Theologie- und Philosophiegeschichte verdanken, werden ausführlich gewürdigt.

Abgesehen von der beeindruckenden Fülle der Inhalte ist eines bemerkenswert: Obwohl die Beiträge wie gesagt nicht nur aus der jüngeren Vergangenheit stammen, sondern teilweise ein halbes Jahrhundert zurückreichen, wirken selbst Rösslers früheste Texte in keiner einzigen Zeile veraltet - im Gegenteil! Gleich am ersten Beitrag "Religion in der Krise" lässt sich das verdeutlichen: Hier wendet sich Rössler gegen eine Reduktion des christlichen Lebens auf Akte der Nächstenliebe. Natürlich weiß der Autor, dass diese unverzichtbar sind. Doch sie machen eben noch nicht das Besondere, das Proprium des Christentums aus. Rössler hält fest: "Das Spezifikum der Kirche ist eine besondere Begründung der Humanität, die Verankerung der Nächstenliebe in der Liebe Gottes zu den Menschen." (S. 17)

Die Frage nach und die Bezugnahme auf Gott steht im Mittelpunkt. Wenn die Kirchen das vergessen, verspielen sie ihren größten Schatz. Liegt hier der Bezug zur Gegenwart nicht auf der Hand? Wenn Religionsgemeinschaften fast nur noch als Hilfsorganisationen für humanitäre Einsätze oder Wellness-Agenturen wahrgenommen werden, sind sie von ihren Konkurrenten auf diesen Feldern nicht mehr zu unterscheiden. Es ist daher sehr einleuchtend, dass Rössler immer wieder das Transzendente betont: Wir Menschen verdanken unsere Existenz einer höheren Instanz, auf die wir immer wieder aufs Neue verwiesen werden.

Freies Christentum zu praktizieren, bedeutet dabei allerdings nicht - wie mancher wohl befürchten mag -‚ dass jeder sich seinen eigenen Glauben als Patchwork zusammenflicken sollte. Der Autor schreibt: "Reiner Subjektivismus hat mit ernsthafter Wahrheitssuche nichts mehr zu tun, weil man auf alle Maßstäbe verzichtet. [ ... ] Wer ehrlich der Wahrheit standzuhalten sucht, muss zugeben: Ich kann nicht allein aus mir selbst denken und sprechen, sondern stehe in einer langen Überlieferung." (S. 60)

Auch Verfechter eines freien Christentums bewegen sich immer in gleich mehreren Spannungsfeldern: zwischen Eigenverantwortung und Tradition, zwischen Glaube und Vernunft, zwischen Offenheit und Gebunden-Sein.

Andreas Rössler leuchtet mit seinen Texten all diese Felder aus - in einer klaren, auch für Laien jederzeit verständlichen Sprache. Ihm gelingt es meisterhaft, auf engstem Raum zu verdichten, was er zu sagen hat. Herausgekommen ist dabei - wie die beiden Herausgeber mit Recht festhalten - nicht weniger als eine "Glaubenslehre im Geiste eines liberalen Protestantismus". Unbedingt empfehlenswert!

Dr. Michael Großmann, Achern


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