Martin Werner

Wer war der Apostel Paulus?

herausgegeben von Jochen Streiter

Rezension


Der Berner Systematische Theologe Martin Werner (1887-1964) ist ein Großmeister der freisinnigen, liberalen Theologie, bekannt geworden hauptsächlich durch die Dogmengeschichte „Die Entstehung des christlichen Dogmas“ (1941, Kurzfassung 1959) und die zweibändige Glaubenslehre „Der protestantische Weg des Glaubens“ (1955 und 1962). Der Gegenspieler seines Schweizerischen Landsmanns Karl Barth übernahm Albert Schweitzers Auffassung von der durchgängigen Naherwartung bei Jesus und im frühen Christentum (22 f.) samt notwendiger „Enteschatologisierung“ in der Aneignung der neutestamentlichen Botschaft. Dem Herausgeber Pfarrer Jochen Streiter, der zu dem Band eine knappe, überaus kundige, ja brillante Einführung in Leben, Denken und Werk Werners beigesteuert hat (93-100), ist es zu verdanken, dass die 1956 gehaltenen allgemeinverständlichen Paulus-Vorträge Werners, die 1963/64 als Artikelserie publiziert wurden, jetzt als kleines Buch erschienen sind: eine weite Verbreitung verdienende Kostbarkeit, in den historischen Kapiteln („Die Briefe des Apostels Paulus“; „Die Apostelgeschichte als Quellenbericht über Paulus“; „Der Lebensgang des Paulus“; „Paulus als Persönlichkeit“) höchst anschaulich und konkret und in den theologischen Kapiteln („Die Eigenart des Christusglaubens des Paulus“; „Die Bedeutung des Christusglaubens des Paulus für uns“) fundamental, mitreißend, existenziell aufwühlend. Jochen Streiter bringt es auf den Punkt: Martin Werners Paulus-Deutung „erschließt den von Christus ausgehenden Geist der Freiheit“ (8).

Beim Lebensgang des Apostels steht das Verhältnis zu den Gemeinden, denen Paulus Briefe schreibt, im Vordergrund. Bei der Darstellung des Paulus in der Apostelgeschichte wird Authentisches und „Erdichtetes“ (25) unterschieden, wobei die Selbstzeugnisse des Apostels den Maßstab bilden. Werner betont, dass Paulus vor seiner Bekehrung bei seinen Christenverfolgungen nicht an Todesurteilen oder Ermordung von Christen beteiligt war. Wohl aber war Paulus „ein 'Eiferer', ein Fanatiker seines Glaubens, als christlicher Apostel nicht weniger als vorher als jüdischer Rabbi“ (53); der „lebenslang […] für die Sache, die er vertrat, stets einfach alles restlos einzusetzen bereit und imstande war“ (54). Paulus konnte schroff, unerbittlich und autoritär sein und seine Gegner verfluchen. Solcher „Glaubensfanatismus“, samt Anspruch auf eine „angeblich unfehlbare Autorität“, führte in der Christentumsgeschichte oft genug zu „Verknechtung und Vernichtung des Menschen“. Freilich wurde Paulus durch die von ihm vertretene Sache „in die Schranken“ gewiesen: „Paulus will doch letztendlich das Heil und das Wohl der Menschen, denen er die Botschaft des Christusglaubens als Heilsbotschaft bringt“ (63). Das starke Selbstbewusstsein des Paulus war ausbalanciert durch sein Eingeständnis eigener Schwäche und Nichtigkeit. Auch als Christ und Apostel bleibt er „ein großstädtischer, jüdischer Mensch“ (53). Anders als Jesus war er „in seinem Wesen und Auftreten ein „antiker Stadtmensch“ (54). Zu den Spannungen seiner Persönlichkeit gehört: Er ist einerseits „Gefühlsmensch, Visionär, Ekstatiker und Zungenredner“ und andererseits, was Werner besonders wichtig ist, „ein ausgeprägter Verstandes- und Vernunftmensch“. Glaube ist für ihn „keine bloße Gefühlssache, sondern etwas in vernünftigem Denken Geklärtes und als wahr Bewährtes“ (57). Paulus „stützt und erhärtet seine eigene Glaubensüberzeugung stets mit Gründen. Er lehnt einen blinden Glauben ab“ (57 f.). Religion und Vernunft sind keine Gegensätze (57), und „der wahre Feind der Menschheit ist nicht die Vernunft, sondern die Unvernunft“ (83).

Die Bekehrung des Paulus war keine „Bußbekehrung“ mit schamvollem Eingeständnis seiner Schuld, sondern eine Vision der „verklärten Erscheinung des himmlischen Messias“. Paulus gewann die Überzeugung, „dass in der Tat in Jesus von Nazareth der himmlische Messias, der Christus, bereits erschienen ist“ (44). Der große existenzielle Einschnitt ist die Kreuzigung Jesu. Denn damit sind zugleich die Ordnungen der irdischen Welt relativiert, sozusagen „gekreuzigt“. So ist Christus nach Röm 10,4 das Ende des jüdischen Gesetzes. Gerade diese Eigenart seines Christusglaubens brachte ihm ständigen Ärger ein, vor allem seitens seiner judenchristlichen Gegner (58 f.). Freilich wäre hinzuzufügen, dass das mosaische Gesetz in der Liebe gipfelt, und darin ist es nicht nur aufgehoben, sondern zugleich erfüllt.

In Kreuz und Auferstehung Jesu hat für Paulus „das Weltende als Anfang einer neuen Schöpfung begonnen“. In den mit Jesus innerlich verbundenen Menschen „beginnen die übernatürlichen Kräfte der neuen Schöpfung bereits wirksam zu werden“ (67). Christen gehören, auch wenn das noch unsichtbar ist, bereits zur neuen Welt Gottes. Die Auferstehung hat für sie bereits begonnen. Freilich bleibt das Problem, dass seit Jesus, Paulus und dem Urchristentum das irdische Leben immer noch weiter geht, man sich also nicht mit der Relativierung des Irdischen begnügen kann, sondern dieses doch verantwortlich gestalten muss, vor allem angesichts der Zweideutigkeiten und des keineswegs besiegten Bösen.

Hier kommt für Werner die „Freiheit“ ins Spiel, die das Neue Testament und uns heute verbindet. „'Freiheit' im tiefsten Sinn ist für Paulus ein inneres Erwecktwerden des Menschen, das ihn mitten in einer unvollkommenen Welt, in der er es mit dem Leiden, dem Bösen und der Vergänglichkeit zu tun bekommt, fähig macht zu einem Leben, das trotz allem wert ist, gelebt zu werden“ (86).

Diese Freiheit geht aus von dem „Christusgeist“, gemäß 2. Kor 3,17: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, wobei nach Werner der Christusgeist universal verstanden werden kann: „Wir haben bei Paulus sogar den Gedanken eines Wirkens des Christus gefunden, das ganz unabhängig ist von der Person und dem Wirken Jesu von Nazareth, in dem für Paulus der himmlische Christus am Ende der Zeiten in Menschengestalt erschienen ist“ (84). Der „Christusgeist“ ist „eine lebendige geistige Macht, die in der Menschheit wirksam ist, die den Menschen in Unruhe versetzt und es ihm nicht erlaubt, sich mit der Unvollkommenheit der Welt einfach endgültig abzufinden“. Der Christusgeist erweckt uns „zu einem sinnhaften Leben“ (83). So ist die innere Freiheit „nichts Selbstverständliches, sondern Geschenk“ (89; auch 84). Damit kommt der Sache nach die paulinische Gnadenlehre zur Geltung, die Werner nicht eigens thematisiert.

Andreas Rössler


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