Martin Werner

Wer war der Apostel Paulus?

herausgegeben von Jochen Streiter

Rezension


Martin Werners auf einer theologischen Woche für Nichttheologen 1956 im "Campo Enrico Pestalozzi" bei Arcegno im Tessin gehaltene Vortragsreihe über den Apostel Paulus, die erstmals 1963/64 als Artikelserie im Schweizerischen Reformierten Volksblatt veröffentlicht wurde, legt Pfarrer Jochen Streiter nun in Buchform vor - verbunden mit einer biographischen Skizze, die die theologische Entwicklung Werners in ansprechender Weise nachzeichnet (S. 93-100; S. 101: Zusammenstellung von dessen Hauptwerken).

Auf knappem Raum bietet das allgemein verständlich geschriebene Buch eine Einführung in Leben und Glauben des Paulus, untergliedert in sechs Abschnitte: I Die Briefe des Apostels Paulus, (S. 10-24), II Die Apostelgeschichte als Quellenbericht über Paulus (S. 25-38), III Der Lebensgang des Paulus (S. 39-52), IV Paulus als Persönlichkeit (S. 53-64), V Die Eigenart des Christusglaubens des Paulus (S. 65-77) und VI Die Bedeutung des Christusglaubens des Paulus für uns (S. 78-90).

Aufgrund der Lektüre von Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung in seinem Tübinger Studiensemester im Jahr 1913 war Martin Werner (1887-1964) bereits als Student zum Schüler Schweitzers geworden, wovon ihr umfangreicher Briefwechsel ein beredtes Zeugnis ablegt. Im Sinne der "konsequenten Eschatologie" vertrat fortan Werner die Auffassung, dass Jesus und der Glaube der ersten Christen historisch sachgemäß nur von der endzeitlichen Naherwartung des Reiches Gottes bzw. der Wiederkunft Christi verstanden werden könnten. Dies ist auch die grundlegende Voraussetzung für Werners Paulusdarstellung. Dass Paulus das damalige Römische Reich in möglichst kurzer Zeit zu missionieren suchte, begründet Werner nämlich damit, "dass Paulus von Anfang an mit der Nähe der Wiederkunft Jesu rechnet und das Weltende noch zu seinen eigenen Lebzeiten zu erleben erwartet" (S. 48).

Im Folgenden sei das Interesse darauf gelenkt, worin sich Werner von anderen Paulusdarstellungen abhebt und worin er die Bedeutung des Apostels für unser gegenwärtiges Christsein erkennt. Für Werner ist Paulus einerseits Gefühlsmensch, Visionär, Ekstatiker und Mystiker, andererseits aber "zugleich ein ausgeprägter Verstandes- und Vernunftmensch" (S. 57). So ermahne der Apostel in Römer 12,1 die Gläubigen zu einem ‚vernünftigen Gottesdienst', zu dem gehöre, "dass der Glaube des Christen keine bloße Gefühlssache sei, sondern etwas in vernünftigem Denken Geklärtes und als wahr Bewährtes" (ebd.). Ähnlich wie in der Paulusdeutung Schweitzers realisiert sich Werner zufolge christlicher Glaube für Paulus in der innerlichen Verbundenheit mit Christus. Indem "in Kreuzestod und Auferstehung Jesu, wenn auch vorläufig äußerlich noch unsichtbar, das Weltende als Anfang einer neuen Schöpfung begonnen habe", würden in den Christusgläubigen bereits die übernatürlichen Kräfte der neuen Schöpfung wirksam werden (S. 67). Daher sei auch das alttestamentliche Gesetz an sein Ende gekommen; der Gläubige lebe in einem "Zwischenzustand", der jedoch nur noch kurze Zeit bis zu Wiederkunft Christi währe (S. 73).

Wenn wir uns als Christen heute auf Paulus beziehen, müssen wir einräumen, dass der weitere Verlauf der Weltgeschichte eine solche Naherwartung widerlegt hat, weshalb "sich der ursprüngliche christliche Glaube verändert hat" (S. 78). Konkret heißt das: "Unsere Einstellung zur bestehenden Welt, zu den Ordnungen, Verhältnissen, Einrichtungen, Gütern und Aufgaben der menschlichen Gesellschaft ist grundsätzlich nicht mehr Indifferenz oder Gleichgültigkeit. [...] Soziale Fragen bedeuten für uns heute mehr als je vorher immer auch soziale Aufgaben, um die wir uns als Glieder der menschlichen Gesellschaft zu kümmern haben und die wir gemeinsam in Angriff nehmen müssen." (S. 81)

Die Bedeutung des paulinischen Christusglaubens für uns besteht nach Werners Urteil darin, "dass Paulus, wenn er von Christus oder vom Christusgeist spricht, an eine lebendige geistige Macht denkt, die in der Menschheit wirksam ist, die den Menschen in Unruhe versetzt und es ihm nicht erlaubt, sich mit der Unvollkommenheit der Welt einfach endgültig abzufinden" (S. 83). Solches innerliche Erwecktwerden verwirklicht sich in der christlichen Freiheit, die es uns zum einen erlaubt, "im eigenen Denken die Einsicht in das Gute als solches zu gewinnen", und die uns zum anderen "aus eigener freier Einsicht" unsere Verantwortung gegenüber den Mitmenschen erkennen und übernehmen lässt (S. 88). In Martin Werners Interpretation des paulinischen Freiheitsverständnisses dürfte nicht zuletzt die besondere Aktualität dieses Buches liegen - können doch die großen Herausforderungen unserer Zeit nur in einem solchen Geist bewältigt werden.

Prof Dr. Werner Zager


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