Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Wolfgang Pfüller legt im Traugott Bautz Verlag eine weitere Abhandlung im Geist "interreligiöser Theologie" vor, nach seinem Buch über Mohammed und Jesus (Sieger und Verlierer, 22016, Rez. in DtPfrBl 1/2017, 50 f.). Es geht um die "moderne Weltreligion" der Bahai - "modern", weil es sich um die 1863 (mit der Vorstufe des Babismus 1844) etablierte jüngste Weltreligion handelt, und weil die Bahai eine Harmonie von Religion und Wissenschaft vertreten und den Entwicklungs- und Fortschrittsgedanken pflegen. Schade nur, dass sich weder im Titel noch im Untertitel ein Hinweis darauf findet, dass dieses systematisch übersichtliche Buch "mit den Kerngedanken des Bahaitums" beschäftigt ist. Die weltweit verbreiteten Bahai mit ihren rund 8 Millionen Mitgliedern stehen angesichts ihrer geistig anspruchsvollen Überzeugungen ganz zu Unrecht im Schatten. Das Bahaitum ist "die unbekannte und/oder ignorierte Weltreligion". Es gehört zu den dezidiert monotheistischen Religionen. Die Bahai sind, wie der Islam-kundige Autor an vielen Beispielen zeigt, aus dem schiitischen Islam hervorgegangen. Sie werden vom Islam aus als "schiitische Apostasie" betrachtet, was dazu führt, dass diese sich gänzlich gewaltlos verbreitende Religion etwa im Iran erheblichen Verfolgungen ausgesetzt ist.
Wer schon mit Bahais erfreuliche Begegnungen gehabt hat und von deren Bildung, Toleranz und Freundlichkeit und von ihrer Aktivität im Dialog der Religionen angenehm berührt worden ist, kann es zunächst nicht glauben, dass das Bahaitum für seine Offenbarer bzw. Propheten Unfehlbarkeit beansprucht. Doch Pfüller kommt nicht nur auf Grund seines gründlichen Quellenstudiums, sondern auch nach seiner Korrespondenz mit führenden deutschen Bahai zum Schluss, dass der "Anspruch auf Unfehlbarkeit offensichtlich im Bahaitum einen eminenten Stellenwert innehat". "Die Crux des Bahai-Glaubens überhaupt" liege "in ihrem Glauben an ihre unfehlbaren, heiligen Schriften". Es handelt sich insbesondere um die zahlreichen, immer noch nicht vollständig erschlossenen Texte des Religionsgründers Baha'ullah (1817-1882) sowie die diese grundlegenden Schriften interpretierenden Veröffentlichungen und Verlautbarungen seines Sohnes Abdul Baha (1844-1921) und dessen Enkels Shogi Effendi (1897-1957). Unfehlbarkeit gilt auch für Baha-ullahs Vorgänger, den Bab (1819-1850) und dessen "Zwillingsoffenbarung", und für das seit 1963 als höchste normative Instanz des Bahaitums fungierende "Universale Haus der Gerechtigkeit" in Haifa, auch wenn dieses "keine unfehlbare Lehrautorität", kein unfehlbares Lehramt" innehat, im Klartext: keine neuen, über Baha'ullahs Äußerungen hinausgehenden Lehren verkündet, sondern sich auf den Erhalt des vorliegenden Glaubensfundus beschränkt. Unfehlbarkeit bedeutet in erster Linie Irrtumslosigkeit, teilweise auch Sündlosigkeit. Letztere gilt aber nur für die "angeborene 'Größte Unfehlbarkeit der göttlichen Manifestationen", nämlich Baha'ullahs, nicht die niedrigere Stufe der "verliehenen Unfehlbarkeit". So oder so wird von den Gläubigen gegenüber den unfehlbaren Personen und Instanzen unbedingter Gehorsam erwartet.
Das passt nun nicht zusammen mit dem von den Bahai auch vertretenen Gedanken der unvoreingenommenen Wahrheitssuche, bei der man ja zu Einsichten kommen könnten, die vom Glauben der Bahai abweichen. Es passt auch nicht zusammen mit der Unergründlichkeit des "Wesens Gottes", die den Bahai wichtig ist, und auch nicht mit der "fortschreitenden Offenbarung", nach der auch die Baha'ullah geschenkte göttliche Manifestation noch nicht endgültig ist, auch wenn sie für mindestens tausend Jahre gelten soll. Mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit und dem hierarchischen Aufbau ihrer Gemeinde wollen die Bahai die "Einheit der Weltgemeinde" sichern, was aber ab einer wesentlich größeren Mitgliederzahl kaum zu garantieren wäre. Pfüller übt mit Hilfe der "Rationalitätsstandards der kritischen Vernunft", dabei vor allem mit den Kriterien der "Konsistenz und Kohärenz", der Widerspruchsfreiheit und des gedanklichen Zusammenhangs also, bei allem deutlichen Wohlwollen gegenüber den Bahai doch eine immanente Kritik dergestalt, dass hier manches nicht so recht zusammenpasst.
Das betrifft auch den für das Gesamt einer Religionsgemeinschaft, nicht nur für deren liberale oder modernistische Flügel, eher erstaunlichen Gedanken einer "Harmonie zwischen Religion und Wissenschaft": Baha'ullah lehnte die heutzutage wissenschaftlich selbstverständliche Auffassung ab, dass sich die Menschen aus dem Tierreich heraus entwickelt haben, und vertrat demgegenüber eine Evolution der Menschen ausschließlich innerhalb der Menschenwelt.
Eine von Pfüller herausgearbeitete Ungereimtheit ist auch der Glaube an eine ständige Aufwärtsentwicklung der Geschichte hin zu einem irdischen Reich Gottes, zu dem die Bahai-Gläubigen mit ihrer inneren Gesinnung hinzuarbeiten haben, aber ohne sich selbst politisch zu betätigen. Wird damit auf eine in der Zukunft von selbst hereinbrechende Bahai-Theokratie gewartet? In ihrer geschichtlichen Fortschrittserwartung, die neben ihrem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele besteht, zeigen die Bahai einen Optimismus, der durch den Gang der Geschichte nicht gedeckt ist. "Visionäre Kraft" steht neben "illusionärer Schwäche". Dass die Religionen im Kern alle eins seien, wird von den Bahai vertreten, aber, wie Pfüller bemerkt, ist der Wesenskern der Religionen für die Bahai eben das, was sie selbst glauben.
Die "Einheit und Einzigkeit Gottes" ist für die Bahai selbstverständlich. Pfüller könnte freilich weiter fragen, nicht nur im Blick auf die Bahai, ob "Einheit Gottes" und "Einzigkeit Gottes" genau dasselbe meinen oder ob das zwei etwas verschiedene Gesichtspunkte sind. Die strikte Unterscheidung der Bahai zwischen unergründlichem "Wesen Gottes" und den "Eigenschaften und bloßer Existenz Gottes", die "erkennbar" seien, wäre auch noch kritisch zu bedenken. Die Begegnung mit den Bahai und ihrem Gedankengut bietet für Christen eine Fülle von Anregungen, wie dieses Buch zeigt.
Andreas Rössler
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