Benjamin Kaiser

Zeit und Leid

Eine phänomenologische Analyse des „Es war“ von Nietzsche bis Kundera

libri virides Band 32

Rezension


"Dann lernt es [das Kind] das Wort "es war" zu verstehen, jenes Losungswort, mit dem Kampf, Leiden und Ueberdruss an den Menschen herankommen, ihn zu erinnern, was sein Dasein im Grunde ist - ein nie zu vollendendes Imperfectum."(F. Nietzsche, Zweite Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, KSA 4, S. 249): Zeitlichkeit und Endlichkeit, diesen beiden Grundthemen der existenziellen Dimension der Philosophie denkt Benjamin Kaiser in seiner kleinen Studie in einer phänomenologischen Lektüre nach. Dass es weniger eine "Analyse" wie im Titel versprochen ist, ist produktiv und zeigt sich schrittweise in seinem Vorgehen.

Programmatisch entwirft er dies als "Epoché von Seiten des Lesenden", der methodisch "nur das von einem Text selbst her Mitgeteilte gelten" zu suchen lässt (S. 9); was sich zeigt, soll als Sache und nicht nur als bloße "Metapher" aufgefasst werden (S. 17), als - so lässt sich schließen - existenzielles Problem: als Bewegung des Lebens und als den Versuch, sich dem eigenen Leiden zu stellen und es zu einer Auseinandersetzung zu führen, die die Eingebundenheit von Existenz mit anderen in die Zeit erfährt und daraus lernt, Verantwortung für eine überindividuelle, generative Schuld für Leid zu übernehmen.

Der Verfasser arbeitet die Grundlagen für ein Denken von Leid und Zeit im Kontext eines pathischen Lebens an der Rede "Von der Erlösung", dem 20. Kapitel des zweiten Bandes von Nietzsches "Also sprach Zarathustra" heraus, nicht ohne jedoch auf eine gleichsam protophänomenologische Entwicklung dieser Thematik in Nietzsches Philosophie- vor der systematischen Phänomenologie der ineinander verflochtenen Konstitution von Zeit und Leben - hinzuweisen, deren Pointierung in dieser Rede sich in dreizehn Bewegungen gleichsam dialogisch entwickelt.

Zuweilen scheint die Lektüre des Zarathustra-Kapitels trotz der methodischen Vorbemerkungen und Rückversicherungen gleichwohl sehr phänomenologisch überfachtet interpretiert, gleichwohl Verfasser diesen Hauptteil des Buches sehr kleinschrittig und immer wieder auch mit Zusammenfassungen, Ausblicken und aporetischen Einwänden an das bis dahin Erreichte aufbaut: Insbesondere die Wollens-, Schöpfungs- und Zukunftsrhetorik Zarathustras, die mehrfach mit Eugen Finks früher Konzeption des Schaffens (dies zumeist in doch suggestiven Fußnoten) und der ebenfalls an diesen angelehnten Meontik gedeutet wird, als "Schaffenwollen der Zukunft in unterschiedlichen Facetten. Damit wird bereits genannt, in welche Richtung sich das Schaffen und Wollen zu artikulieren weiß: in Richtung eines sich meontisch Loslösenden hin" (S. 42), dem es weiter nachzudenken gälte.

Auch die Figur des pathischen Lebens wird - vor dem Verweis auf das Desiderat, das Pathische philosophisch weiter zu erforschen - auf Finks lebensphilosophische Versuche in seiner Zusammenarbeit mit Husserl recht knapp in einer Fußnote expliziert (vgl. S. 31), was angesichts eines vertieften Kontextes pathischen Lebens und Philosophierens in der medizinischen Anthropologie recht kurz greift (s. zu dieser Themaik die Rezension von R. M. E. Jacobi in der psycho-logik 2016 zu H.. Wiedebachs Monographie "Pathische Urteilskraft", Freiburg/München 2014). Viele weiterführenden Gedanken werden in Fußnoten angerissen und werden hier nach der Hervorhebung recht stiefmütterlich behandelt, so insbesondere, die im Folgenden kurz hervorgehobene sprachlich vermittelte Abstandnahme Zarathustras von sich in der Rede, die Verfasser als "Bewegungen" beschreibt, deren dialogischer Charakter dann bemerkt, aber nicht wirklich weitergeführt und dann auch nicht in den späteren Lektüren aufgegriffen wird.

Mit der fünften und sechsten Bewegung "Von der Erlösung" wird der auf die Erlösung zielende Wille zum einen auf eine Aporie gebracht, an sich selbst zu leiden und ein bedingter zu sein, dessen Selbsttranszendenz auf strukturelle Probleme stößt: sich nicht aus der Zeit lösen zu können. Diese Bewegung stößt aber zugleich die folgende an, was denn die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen, sich selbst transparent gewordenen Willens seien und inwiefern er überhaupt ein unfreier sein muss; letztendlich deutet sich hier bereits die phänomenologische Fragestellung, wie sich Zeit konstituieren kann, an und öffnet die Frage auf die Möglichkeit der Erlösung von Leiden und Schuld eines reaktiven und in sich selbst verfangenen Wollens, der für sich Erlösung will.

Erlösung von der Erlösung und insbesondere einem personalen Erlöser erweist sich im nun einsetzenden Zwiegespräch Zarathustras mit sich selbst als fragwürdig, bis hin zur Abstandnahme vom "Willen zur Macht" und zum Schweigen Zarathustras, wo Selbst und ich, die große und die kleine Vernunft auseinandertreten und diese dialogische Konstellation (vgl. S. 63), in die ein Drittes eintreten kann, muss und soll, auf Antwortversuche hofft (vgl. S. 72).

Mit dem inhaltlich knapperen, nun verschiedenen phänomenologischen Denkern gewidmeten zweiten Teil der Lektüre vom Fortwirken der nietzscheanischen Fragestellung von Zeit und Leid zeigt sich das "es war" als ein "sich selbst überschreibendes Bild" (S. 10) und als eine Meditation des Philosophierens im Leben, das gleichsam therapeutisch Wandlungen aufzeigen kann. Philosophieren in den Modifikationen der Sache selbst erweist sich als "erlebte Medialität" (S. 13) von Leid, Zeit und Schuld. Explizit will Verfasser dieses Fortwirken als "Umformulierungen der Nachfolgenden " und als produktive Auseinandersetzung mit dem Phänomen (S. 73) verstanden wissen, die nur exemplarisch vollzogen werden, aber für die persönliche Auseinandersetzung auch anders geführt werden könnte.

Seine Ausführungen beginnen mit Husserls Zumutung der Einstimmigkeit der Erfahrung, der selbstkritischen Enttäuschung des Erlebens und der Erfahrung von Widerständigkeil der Erinnerung, führen zu Heideggers apathischen Auseinanderserzung mit dem Leiden des Daseins und Heideggers produktiv gewendeten Mlssverstehens des "Zarathustras" in dem Aufsatz "Nietzsches Metaphysik". Sie nehmen Abstand von Heidegger mit E. Levinas' Überlegungen zur Stimme des Dritten im Schweigen des "es gibt" und leiten zu P. Ricoeurs Entwurf einer sozialphilosophisch erweiterten Erinnerungspolitik und der therapeutischen Möglichkeit, in der Geschichtsschreibung Schuld zu bearbeiten, über.

Als Versuch einer Zusammenfassung dieses Weges, der recht verstanden ein Ausblick sein kann, endet der Verfasser mit M. Kunderas narrativer Auseinandersetzung mit Leid und Zeit in der "litost", dem tschechischen, nur durch Beschreibung und eigenes Nacherleben zugänglichen "Zustand, der durch den Anblick unserer unvermutet entdeckten Erbärmlichkeit ausgelösr wird" (M. Kundera, Das Buch vom Lachen und Vergessen. München 2010, S. 165), das Kundera in fünften Teil ebendieses Romans den Leser erzählend erfahren lässt.

Im Roman als Möglichkeit des Phänomenologisierens, insbesondere bei Kundera der Leib- und Körperreflexion (vgl. S. 110), sieht der Verfasser die bislang besprochenen Erfahrungsmedien von Zeit und Leid gleichsam als Prisma vereint und führt hier insbesondere das Umschreiben bzw. Streichen der eigenen Erfahrung bei Nietzsche und Husserl, das Vergessen und seine Widerständigkeit, der gemeinsamen Erinnerung, wie Ricoeur sie entwirft und der Bedingungslosigkeit von Liebe, der Erfahrung des Getragenwerden durch einen radikal Anderen und schließlich die ironische Leichtigkeit der Poesie, wie sie Kundera als Trost der Tragödie anbietet, zusammen.

Dieser Teil bleibt kursorisch: Die Leerstellen - man denke an M. Theunissen und seine Auseinandersetzung mit Zeit und Leid im Spannungsfeld von Phänomenologie und der dialogischen Philosophie, aber auch an die dialektischen Versuche der Existenzphilosophie - öffnen sich aber auf weitere Antwortversuche, die ansetzen können an dem Phänomen, was Benjamin Kaiser mit dem pathischen Leben in seiner Zeitverfangenheit, seinen ganzen Paradoxien, aber eben auch seiner poetischen Kraft phänomenologisch zum Aufscheinen gebracht hat. Es :zur Sprache zu bringen, in einer weiteren Phänomenologie dieses pathischen Lebens, dazu regt nicht zuletzt der narrative (und damit auch dialogisch sich öffnende) Epilog dieser Schrift an.

Annette Hilt


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