Wenn ich mit der Realitätsferne und Erkenntnisarmut der neoklassischen Volkswirtschaftslehre konfrontiert werde, denke ich unwillkürlich an das Gedicht "Im Park" von Joachim Ringelnatz: "Ein ganz kleines Reh stand am ganz kleinen Baum
Still und verklärt wie im Traum / Das war des Nachts elf Uhr zwei / Und dann kam ich um vier/ Morgens wieder vorbei, / Und da träumte noch immer das Tier./ Nun schlich ich mich leise - ich atmete kaum - /Gegen den Wind and den Baum, / Und gab dem Reh einen ganz kleinen Stips./ Und da war es aus Gips." Und ich bin froh, dass die
Poesie mich so überfällt, denn sie ist laut Sebastian Berger bitter nötig, um nicht nur über das Unvermögen moderner Wirtschaftstheorie, die vielfältigen Krisen zu erklären, hinwegzukommen sondern auch als Vademecum gegen "die Grausamkeit des Lehrkonsens" in der Ökonomenzunft und "die Gefahren des Karrierismus". Im einleitenden Kapitel des Buches beklagt der Autor mit starken Worten den desolaten Zustand der modernen Wirtschaftswissenschaft. Einem Urteil, dem ich absolut zustimme, aber zuweilen hätte ich mir hier ein paar empirische Belege
gewünscht, z. B. wenn der Autor im dritten Einleitungskapitel die Gleichschaltung in der Lehre beschreibt und auf die korrumpierende Wirkung von Stiftungsprofessuren hinweist. In den Kapiteln vier und fünf der Einleitung wird von Berger die Alternative einer poetischen Wirtschaftswissenschaft aufgezeigt. Er macht das, indem er auf
dichtende und von der Poesie beeinflusste Ökonomen (Hayek, Keynes, Marx, Mill, Marshall, Veblen und Georgenscu-Roegen) und andere Geistesgrößen (Dewey, Peirce, Einstein und Planck) so wie Poeten (Goethe, Hölderlin und Pound), die
sich mit der Ökonomie auseinander gesetzt haben, verweist. In diesem Teil fehlt es leider an Zitathinweisen. Ganz anders verfährt der Autor dagegen im Hauptteil des Buches, wo minutiös aus dem Briefwechsel und Aufsätzen belegt ist, wie die Ökonomik von Karl William Kapp durch die (Brief-) Freundschaft mit seinem ehemaligen Lehrer - dem Dichter - Ernst Wiechert beeinflusst wurde. Die geistige Verbindung der korrespondierenden Freunde entsteht z. B. über die poetische Naturwahrnehmung Wiecherts zur Begründung der ökologischen Ökonomik durch Kapp sowie zu seiner Sozialkostentheorie und von der Bedeutung der Tapferkeit und des freien Herzens für Wiechert zur Bewahrung der Studenten vor einem plumpen Karrierismus und der Reform der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre hin zu einem ganzheitlichen sozial-ökologischen Verständnis bei Kapp. Diese Beispiele des parallelen Denkens belegen Bergers Schlussfolgerungen: 1. "Die Freundschaft zwischen dem Ökonomen Kapp und dem Dichter Wiechert ist ein schönes Beispiel für die Art und Weise, wie Ökonomie von der Dichtung inspiriert werden kann. (S. 47) Und 2.: So "ergibt die Untersuchung von Kapps gesammelten Werken, dass eine erstaunliche geistige
Einheit mit der in Wiecherts Werken zum Ausdruck kommenden Ethik besteht, so dass diese als ursprüngliche Quelle seiner Wirtschaftstheorie anzunehmen ist." (S. 37) Die zweite Hälfte des Bandes nimmt der vollständige Briefwechsel zwischen Wiechert und Kapp ein. Die Lektüre dieser Zeitdokumente hinterlässt beim Leser einen erschütternden Eindruck von der beklemmenden Atmosphäre im
Nachkriegsdeutschland, in welcher sich der Widerstandskämpfer und ehemalige KZ-Häftling Wiechert mit Beschimpfungen und Anfeindungen durch die immer noch in der Öffentlichkeit sich breit machenden Nazis konfrontiert sieht.
Außerdem bekommt man einen Eindruck von der Art der intellektuellen Debatten zwischen den Briefpartnern. Dabei fällt z. B. auf, dass bei allem freundschaftlichen Respekt und grundsätzlicher Übereinstimmung miteinander auch erhebliche
Unterschiede in der Wahrnehmung der Ursachen des Bösen (der Schock der Naziherrschaft ist noch frisch und sitzt tief!) zwischen der poetischen Tugendethik Wiecherts und der institutionell konsequentialistischen Sozialanalyse Kapps
besteht. So schreibt Wiechert: "Und die Essenz des Lebens und der Mühe und der Arbeit bleibt doch nur dieses: kein Prophet zu sein, sondern still sein Tagwerk zu tun und mit Leben und Werk einen stillen Schein des Trostes für zwei, drei Menschen zu bilden. Nur aus solchen kleinen Inseln kann sich ganz langsam eine kleine Welt der Menschen guten Willens aufbauen, aber man darf nie vergessen, dass sie immer klein bleiben wird und dass schon der Begriff des Volkes so viel Inkommensurables in sich schließt, dass wir ihn in unser Planen nicht einbeziehen sollten." (S. 69 und 70) Auf dieses Argument der kleinen individuellen Schritte reagiert Kapp einige Zeit später, indem er schreibt: "Ich kann nicht aufgeben, nach den Gründen zu suchen,
die den Deutschen und den Menschen zu dem machen, was sie sind. Und obwohl ich sicherlich zu denen gehört habe, die sich über unsere Fähigkeit, die "Welt zu bewegen" getäuscht haben, kommt es mir dennoch so vor, dass für die Degeneration der letzten Jahrzehnte Ursachen in Institutionen und Haltungen zu finden sind, die
aufs Engste mit der Atomisierung des Individuums in der planlosen Konkurrenzwirtschaft verbunden sind." (S. 84) Stefan Kesting
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