Der Begriff "Leitkultur" wurde schon seit seiner Einführung in die politikwissenschaftliche Debatte mit Europa in Verbindung gedacht. Der Philosoph Hans-Christian Günther nahm sich mit diesem Band vor, eine solche Vorstellungsverknüpfung zu bestreiten, ohne aber eine Alternative auszulassen. Dafür hat er sich einer Auswahl von Vorträgen bedient, die im Rahmen zweier Konferenzen in China gehalten wurden. Das daraus entstandene Buch ist zum Teil eine gegen Europa (oder gegen den Westen allgemein) gewendete Kritik und zugleich eine Hervorhebung Chinas als Vorbild und Hervorhebung der Wichtigkeit eines Gesprächs mit der östlichen Kultur. Dank seiner Heterogenität ermöglicht dieser Band die Behandlung unterschiedlicher Themen.
Ivo de Gennaros Aufsatz "The Way We Speak" dient als Einführung zum Umgang mit europäischem und ostasiatischem Denken. Yamaguchi Ichiro nimmt sich dann vor, die Husserlsche Methode des Abbaus für die Möglichkeit der Aufklärung verschiedener kultureller Missverständnisse zu deuten.
Der Kern des Bandes besteht jedoch in der vergleichenden Darstellung westlicher und östlicher Kulturen. Günthers Aufsätze plädieren für eine Revision des europäischen Stolzes sowie für die Notwendigkeit des Westens, von China zu lernen; sie stützen sich alle auf die Tatsache, dass China nie eine bestimmte Epoche benötigte, um vernünftig und frei von einer "perversen Religiosität" (189) zu werden. Die europäische Aufklärung sei dagegen nicht nur in dieser Hinsicht gescheitert, sondern wurde zusätzlich durch Neigungen zu Kolonialismus und Rassismus belastet. Da China nie von einer bestimmten Religion oder von einem pseudo-rationalen metaphysischen System definiert wurde (190) und tatsächlich eine für alle offene Gesellschaft geblieben ist, soll China, so H.-C. Günther, für unsere immer noch enttäuschende politische Wirklichkeit vorbildlich sein. Diese Darstellung wird im nächsten Aufsatz von Gu Zengkun unterstützt, der das chinesische familienähnliche Wertesystem mit einem westlichen, individuellen, nach Interessengruppen orientierten System vergleicht. Beide seien legitim, das chinesische aber überlegen, da nur eine Gesellschaft, die alle Menschen als Familienmitglieder sieht, tatsächlich zu einer besseren Welt führen könne. Ein ähnliches Ideal wird dann mit Bezug auf Gandhis Gesellschaftsutopie von Monika Kirloskar-Steinbach beschrieben. Das interkulturelle Philosophieren biete die Möglichkeit neuer Alternativen. Im Kontext der Menschenrechte könne die Überwindung der anglo - europäischen, individualistischen Tradition zu einem mit Moralität verbundenen Konzept des Rechtes führen. Gandhis Verständnis von Naturgesetz und Recht agiert mit dem indischen Gedankengang und bringt daher Konzepte wie die Rechte aller Lebewesen, Entsagung, Einfachheit, Genügsamkeit und Großzügigkeit hervor (281).
Der Aufsatz "Politeia, Cosmopolis und Globalisierung" erinnert wieder an die Notwendigkeit des interkulturellen Gesprächs. Laut Cheng Zhimin ist die heutige Globalisierung vielmehr eine Verwestlichung. Entgegen der Vorstellung eines Weltstaates sollten wir einem Polylog zwischen Kulturen den Vorzug geben und so ihre gegenseitige Ergänzung ermöglichen. (316ff.)
Das von H.-C. Günther herausgegebene Buch trägt, zumindest teilweise, deutliche politisch-ideologische Einstellungen mit sich, und eine kritische Umgangsweise mit diesen bleibt den jeweiligen Leserinnen überlassen. Dennoch liefert es einen wertvollen Impuls zur (Selbst-)Kritik, zur interkulturell-philosophischen Reflexion und zur Auseinandersetzung mit gegenwärtigen politisch-philosophischen Problemen.
Cristina Chitu
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