Peter Kaiser

HEILIGE QUAL UND DIE LUST AM SCHMERZ

Spiritualität und Sadomasochismus

Rezension


In seinem Vorwort, zu seinem Buch "Heilige Qual und die Lust am Schmerz - Spiritualität und Sadomasochismus", beantwortet der Autor die selbstgestellte Frage, warum diese Thematik gerade von einem Psychiater, Anthropologen, Religionswissenschaftler und Sexualtherapeut behandelt werden sollte mit einem klaren "von wem sonst" - und nach der Lektüre weiß ich, wie Recht er hat.

Seine Arbeit vermittelte mir eine Ahnung davon, was Religionswissenschaft bedeuten kann. Zudem bietet die Kulturwissenschaft, zu deren Fachgebiet Religionswissenschaft zählt, eine hervorragende Grundlage, sich auch mit Subkulturen zu beschäftigen, wie hier mit der des BDSM.

Als Laie mit berufsbedingten, neurophysiologischen Vorkenntnissen, fiel es mir allerdings nicht immer leicht, insbesondere die medizinischen Grundlagen nachzuvollziehen, die Prof. Dr. Dr. Kaiser auch noch als Psychiater im ersten Teil seines Buches liefert. Ausgerechnet im Abschnitt, in dem die Verarbeitung von Schmerz dargelegt wird, hätte mir das eine oder andere absolvierte Semester in Neurowissenschaften, mit Erläuterung von Hirnanatomie und detaillierter Erklärung der Übertragungs- und Verarbeitungswege von Reizen, im Wechselspiel verschiedener Botenstoffe gut getan, um wirklich alles zu verstehen. Zusammengefasst legt er als Mediziner dar, dass Schmerz die Lustwahrnehmung senkt, während Lust die Schmerzwahrnehmung senkt, wodurch Schmerz- und Lustwahrnehmung zwei Seiten derselben Medaille sind. Die Schwelle vom Sach- zum Fachbuch wird dabei deutlich überschritten. Lange Passagen mit Zitaten von Experten anderer Disziplinen im englischen Original machen zusätzlich klar: hier handelt es sich um eine wissenschaftliche Ausarbeitung!

Leichter nachvollziehbar, und interessant zu lesen, war für mich dagegen der interkulturelle Vergleich der Schmerzwahrnehmung: klar wird der Bezug zur sadomasochistischen Subkultur vorbereitet, wenn erläutert wird, wie unterschiedlich Menschen mit Schmerzen umgehen und welche Bedeutung der kulturelle und situative Kontext hat. So berichtet Kaiser von einer Volksgruppe, in der selbst Kinder kaum ein Problem damit haben, sich rituell die Nasenscheidewand mit einem Holzpflock durchbohren zu lassen - jedoch bei Schmerzzuständen, die eine internistische, krankheitsbedingte Ursache haben, stark zu leiden beginnen. Gesuchter Schmerz ist stets kontrollierbar und darum leichter auszuhalten, als der, dem man ausgeliefert ist. Schmerz wird auf physiologischer Ebene im Hirn immer gleich verarbeitet - ob es der Daumen ist, der beim Einschlagen eines Nagels in die Wand getroffen wird, die Zahnbehandlung, die Selbststimulation beim Kratzen eines juckenden Stiches oder der durch eine andere Person zugefügte Reiz bei einer SM-Session: ausschlaggebend ob ein Schmerzreiz als angenehm empfunden wird ist, ob der Betreffende die Situation selbst kontrollieren kann und ihr angstfrei gegenübersteht, oder dem Geschehen hilflos ausgeliefert ist. Bezogen auf sadomasochistische Regeln des Safe, Sane und Consensual kommen uns Insidern hier auch Aspekte wie Metakonsens oder der risikobewusste, einvernehmliche, erotische Kick in den Sinn.

Kaiser zeigt als Wissenschaftler klar und sachlich die Zusammenhänge körperlich, emotionaler Vorgänge auf, was gleichzeitig nachvollziehbar macht und eine pauschale Pathologisierung in Frage stellt; sei es des religiösen oder sexuellen Erlebens, oder insbesondere sadomasochistischer Ausdrucksformen von Erotik.

Bei der religionswissenschaftlich Erläuterung von Begriffen wie Askese und Sünde im zweiten Teil, war ich als evangelischer Christ froh, mich in einer Kirche zu bewegen, die mir aktuell nicht vorschreibt, wie ich diese zu verstehen habe - und fragte mich gleichzeitig, inwieweit ich mich noch auf dem Boden christlicher Tradition bewege. Hier unterscheidet sich meine intrinsische Spiritualität von der objektiven Sicht des Religionswissenschaftlers auf das Christentum. Doch die Herausarbeitung des Unterschiedes von Theologie und Religionswissenschaft ist nicht Gegenstand von Kaisers Arbeit. Frühchristliche und mittelalterliche, katholische Glaubenspraxis, über angestrebtes Leiden die Nähe zu Gott zu finden, darf als Bestandteil christlicher Tradition nicht geleugnet werden. Kaiser beschreibt den krassen Kontrast zu östlichen Religionen, bei denen nicht die Nachempfindung, sondern die Überwindung von Leiden durch Askese und Trance dazu dient, Nähe zum Göttlichen, ja Erleuchtung, zu erreichen, die beim Tantra sogar über die Sexualität gefunden wird. Die Analogie zu BDSM, wenn hier dem Mann, als Asket, die Rolle des Passiven zukommt, der zwar Erregung erfährt, nach Möglichkeit jedoch keinen Höhepunkt erreicht, um sich ganz von seinen irdischen Bedürfnissen zu lösen, liegt Insidern auf der Hand.

Klar - auch bei den dargestellten Biographien mittelalterlicher Mystiker, die sich in ihrer Sehnsucht nach Gottesnähe selbst quälten, sind Ähnlichkeiten zu sadomasochistischen, autoerotischen Praktiken und Gefühlen zu erkennen, doch ob es sich hierbei um eine Korrelation oder eine zwingende Kausalität handelt, blieb mir zunächst unklar. Schließlich leiden auch manche Sadomasochisten unter Depressionen und dennoch wird man nicht davon ausgehen können, dass alle Depressiven Sadomasochisten sind. Und mancher Sadomasochist der in der Szene anzutreffen ist, fühlt sich gänzlich unreligiös. Tatsächlich nimmt Kaiser am Ende seiner Arbeit dazu Stellung.

Nicht fehlen darf in so einem Werk die Erläuterung der Verfolgung Andersdenkender und - glaubender als Ketzer und zumeist von Frauen in Außenseiterposition als Hexen. Diesbezüglich wird aufgezeigt, dass sich damit die gesellschaftliche Funktion verband, die Gemeinschaft derer, die nicht verfolgt werden und die Macht derer, die die Verfolgung ausüben, zu stärken - zumeist: der Kirche. Dass die Sexualisierung der Gewalt dieser noch eine besonders entwürdigende Form verleiht, ist klar und stellt die niedrigste, menschliche Möglichkeit der Machtdurchsetzung dar. Kaiser sieht hierin ganz psychoanalytisch auch ein Ventil für verdrängte sexuelle Wünsche der Täter, die maskiert ans Licht drängen, pervers ausgelebt und gleichzeitig abgewehrt werden können. In freud'scher Denkweise, die der Autor in Teilen auch kritisch sieht, könnte man darin eine üble Art von Sublimierung sehen, wandelten doch die Täter ihre selbst nicht eingestandenen erotischen Triebe in ein für den damaligen, machtpolitischen Kontext akzeptables, weil sogar kirchlich angeordnetes, Verhalten um.

Folgerichtig stellt der Autor als Psychiater fest, dass religiös motivierte Selbstverletzung heutzutage Fragen in Richtung von Zwangsstörungen und Depressionen aufwerfen würde oder eine nähere Untersuchung des vermutlich zweifelhaften, religiösen Kollektivs, aus dem die Anforderung entstanden ist sich selbst zu schädigen, notwendig machten - als Religionswissenschaftler bestätigt er, dass heutige Gottesbilder eher positive Züge haben, wiewohl sie zeitgeistabhängig sind.

Die veränderte Stellung des Schmerzes wird skizziert: Stellt er in der Kirche des Mittelalters geradezu eine Tugend dar, als Mittel, die Leiden Christi nachzuvollziehen und sich so Gott zu näheren, wird seine Notwendigkeit zusehends auch durch den Fortschritt in der Medizin inFrage gestellt - und somit auch die Haltung der Kirche: wie soll ein liebender Gott, das Leiden in der Welt zulassen? Als Narkose und Betäubung zur Schmerzbehandlung führt und Schmerzfreiheit zum Ideal wird, steht derjenige der Schmerzen hat, geradezu alleine da - wer sie sich auch noch selbst zufügt (oder zufügen lässt), wird vollends marginalisiert. Normal in unserer Gesellschaft ist Schmerzfreiheit, Leiden ergibt keinen Sinn mehr. Persönliche Freude machte es mir, zu lesen, dass um 1700 zumindest von einem Pariser Domherrn und Mediziner in der katholischen Kirche der Sinn von Flagellation im Rahmen einer Abhandlung hinterfragt wurde. Sie sei heidnischen Ursprungs und der Gedanke, dadurch Erlösung zu empfangen, geradezu häretisch. Zudem kommt er auf körperliche, luststeigernde Konsequenzen zu sprechen, leider eben in ablehnender Form. Im weltweiten Vergleich mit anderen Kulturen und Religionen zeigt Peter Kaiser auf, dass Schmerz immer wieder eingesetzt wird, wenn es darum geht, mit etwas Höherem zu verschmelzen oder zumindest Teile körperlicher Grenzen zu überwinden. Und dies kann auch lustvoll erlebt werden.

Obwohl ich eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik BDSM zwecks der damit erreichten Aufklärung immer begrüße, befürchtete ich bis zum Schluss, es käme wieder die für mich inzwischen zum Klischee geratene Aussage heraus, die Grausamkeiten, die Kirchenvertreter im Mittelalter begangen haben, seien nichts anders, als heuchlerisch kaschierte, sadomasochistische Praktiken, die dann nicht nur aufgrund ihrer menschenverachtenden Brutalität verwerflich wären, sondern auch wegen der Verlogenheit der Moralinstanz "Kirche". Doch Kaiser stellt fest, dass schmerzhafte Praktiken allgemein wegen der "neurophysiologischen Endstrecke" sexuelle, lustvolle Gefühle hervorrufen können. Wurden diese bei asketischen Übungen eingesetzt, waren sie zur Unterdrückung sexueller Gefühle schlichtweg ungeeignet. Das religiöse Bedürfnis nach einem selbstgewählten Martyrium erklärt er unter Bezugnahme auf den Theologen Holger Tiedemann daraus, dass nach Einführung des Christentums als Staatsreligion der Orientierungspunkt der Christenverfolgung fehlte, um sich oder anderen im Martyrium die Tiefe des eigenen Glaubens zu beweisen -weshalb sich dann die Verfolgung bei den mittelalterlichen Mystikern zunächst gegen sich selbst richtete. Es ging um die Abtötung des eigenen Körpers. Bei seiner Darlegung des "modernen" Sadomasochismus, der sich mit seiner kennzeichnenden Einvernehmlichkeit von der erotischen Lust am Quälen eines Marquis de Sade abgrenzen lässt, nimmt er auch Bezug auf aktuelle Veröffentlichungen von Sozialwissenschaftlern, wie der Soziologin Elisabeth Wagner oder dem Politikwissenschaftler Dr. Norbert Elb.

Auf dem Hintergrund alles bislang Erörterten, ist sein kulturwissenschaftlicher Blick auf die BDSM-Szene und dortigen Praktiken sehr Interessant zu lesen, weil er hier beschreibt, wie eben auch erotisch-sexuelle Aktivität zu einem Gefühl der Verschmelzung mit einem höheren, großen Ganzen führen kann und dies auch unabhängig von Religion zu einem Erlebnis einer Unio Mystica - der Heirat und Verschmelzung mit dem Göttlichen - die von verschiedenen Religionen angestrebt wird. Die Beschreibungen mancher Sadomasochisten bestätigt dies, wird SM doch auch gerne mit "Sexuelle Magie" übersetzt oder dem ganzen Geschehen eine spirituelle Qualität verleihen.

Als Wissenschaftler seiner verschiedenen Fachbereiche liegt es Kaiser fern, Religionen, wie auch Ausdrucksformen der Sexualität zu bewerten. Allerdings ermöglicht sein vergleichender Blick auf Sadomasochismus, gerade auch in Verbindung mit medizinischen Grundlagen ein vertieftes Verständnis dieses Phänomens. Am Ende schließt sich der Kreis der Wahrnehmung von Sexualität und Religion. Bezüglich ihres Umgangs mit Körperlichkeit, mit Schmerz, mit Sexualität und dem Wunsch nach Verschmelzung mit etwas Höherem waren mir Analogien klarer- dennoch habe ich zur Vertiefung (und dies sei jedem Laien empfohlen) nach der abschließenden Zusammenfassung nochmals die Erläuterungen im ersten Teil, zum Forschungszweig der sogenannten "Neurotheologie" gelesen; zu der Hirnregion, die vor allem bei spirituellen oder meditativen Zuständen, also solchen, die mit Entgrenzung der eigenen Person und dem, was man gewöhnlich als Verbindung mit einer höheren Macht empfindet, zu tun haben, aktiv werden. Letztlich ist es egal, ob diese Trance mittels Erotik oder Spiritualität gesucht oder angeregt wird. Neben der Verarbeitung von Lust und Schmerzreizen, ein weiterer bedeutender medizinischer Aspekt im Geschehen rund um SM und Spiritualität.

Noch viele weitere Gedankenanstöße wären zu erwähnen, die das Buch mir geliefert hat, angefangen vom Ethnozentrismus, der uns dazu veranlassen kann, andere Kulturen stets aus unserem Blickwinkel zu betrachten und zu bewerten, bis hin zur Unterscheidung von intrinsischer und extrinsischer Religiosität, die sich in Ritualen und Überzeugungen entweder an der Stimmigkeit mit dem eigenen inneren Erleben oder der angenommenen Außenwirkung und den Reaktionen der Umwelt orientiert.

Am Verdienstvollsten finde ich jedoch, die klare, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit BDSM als Subkultur, die es Wert ist, unter einer besonderen Fragestellung mit den Augen eines Ethnologen, Psychiaters und Sexualtherapeuten wertfrei betrachtet zu werden, was nicht nur Außenstehenden helfen kann, ein Verständnis für Sadomasochistische Empfindungen, sondern auch Sadomasochisten ein besseres Bewusstsein für sich und ihre Neigungen zu entwickeln.

Joe Wagner, Gesprächskreis SundMehr
www.sundmehr.de


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