Mit Geschlechtlichkeit verbinden die allermeisten zunächst kein philosophisches Thema. Ihre erste und einzige Bedeutung scheint in der biologischen Funktion der Fortpflanzung vollständig aufzugehen. Was aber ist mit der Tatsache, dass jeder Mensch einen Leib hat und diesen nur, insofern er geschlechtlich ist? An der Bedeutung dieser Gegebenheit über den Zweck der Fortpflanzung hinaus wurde bisher vorbeigedacht, sodass sie auch in philosophischen Leiblichkeitskonzepten unerforscht blieb.
Es zeichnet die (unter der Betreuung von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in Dresden entstandene) Dissertation von Anna Maria Martini aus, dass sie den Wert solch einer grundlegenden anthropologischen Konstante der Zweigeschlechtlichkeit und deren Sinn für den menschlichen Leib erfasst, sowie deren Stellung als Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz herauskristallisiert. Das Ziel der Arbeit besteht darin, dieses Leiblich-Sein als transzendenten und kenotischen Daseinsvollzug erkenntlich zu machen, der zugleich die Möglichkeit des Transzendierens eröffnet und damit zur Grundbedingung für die Entwicklung menschlicher Ich-Erfahrung wird. Notwendig ist diese Analyse, weil sie sich dem unbestreitbar unbeleuchteten Thema der Geschlechtlichkeit als leibliches Phänomen widmet, die eine tiefere Sinnstruktur unseres Daseins aufzuzeigen vermag.
In insgesamt vier Kapiteln geht die Verfasserin dieses Vorhaben an, wobei Kapitel zwei und drei als die beiden Hauptteile der Arbeit zu sehen sind. Dabei verfolgt sie die sinnvolle Grundlinie, die Qualitäten von Geschlechtlichkeit aufzuweisen, ohne im Einzelnen auf die weibliche und männliche Eigenart einzugehen, weil die jeweilige Spezifik nichts an deren Vollzug ändert (vgl. 110). Der erste Teil greift einleitend das Phänomen der Geschlechtlichkeit als solches auf. "Der Mensch ist geschlechtlich und hat zugleich seine Geschlechtlichkeit." (42) Diese Formulierung erinnert an die Unterscheidung zwischen Körper- Haben und Leib-Sein von Plessner und verweist auf die unhintergehbare Tatsache der menschlichen Fähigkeit zur Selbstdistanzierung. Konsequent folgt ein zweiter Teil, in dem zentrale Begrifflichkeiten erläutert und im Kontext der Geistesgeschichte beleuchtet werden. Dargestellt wird hier der Einfluss der Geschlechtlichkeit auf Fremdheitserfahrung und Identitätsbildung. Dabei werden besonders die (post-)feministischen Positionen von Beauvoir, Butler und Irigaray differenziert untersucht. Um hier weiterzukommen, nimmt Martini mythologische und biblische Aussagen zur Erschaffung des Menschen in ihre Überlegungen auf. Die Geistergeschichte enthält viele Beispiele für ein asymmetrisch verstandenes Geschlechterverhältnis. Feststehende Rangstufen lassen sich im Buddhismus, bei Aristoteles, Augustinus und bei Thomas von Aquin finden. Die Verfasserin gibt dem Leser einen detaillierten Einblick in die neuzeitliche "Querelle des femmes", die nicht nur frauenfeindliche Sichtweisen umfasst, sondern auch männerfeindliche Tendenzen, wenn beispielsweise Agrippa von Nettesheim überzeugt ist, dass "der ruhmreiche Stamm der Frauen dem harten Männergeschlecht fast grenzenlos überlegen" (69) ist. Neben einem Durchgang durch die Aufklärung, werden auch aktuelle Sichtweisen herangezogen. Während die Geschlechtlichkeit beim Mann nach Simmel ein Tun darstellt, ist sie bei der Frau als Sein aufzufassen (vgl. 80). Im Übergang zum dritten Kapitel der Arbeit wird darauf verwiesen, wie die Geschlechtlichkeit die Schnittstelle zwischen Innen und Außen in einzigartiger Weise verdeutlicht. Geschlechtliche Begegnung ermöglicht Öffnung auf Welt, die sich aus dem Streben nach Ganzheit ergibt. Nach Kant wird die Vernunft im Gegensatz zum Verstand transzendent, "ohne aber den Bereich der Immanenz (der Erfahrung) letztendlich ganz zu verlassen" (95f.). Die Verfasserin spezifiziert eine Transzendenz im Großen und eine relative Transzendenz im Immanenten. Letztere weist das Gerichtetsein auf das eigene Ich oder auf ein Du auf, die sich für die Ich-Werdung als unentbehrlich erweisen: "Ohne Ich-Bewusstsein ist kein Überstieg zum Du und umgekehrt, ohne ein Du als Gegenüber ist kein Ich-Bewusstsein möglich." (97) Mit dem dritten Kapitel rücken die bisherigen Erkenntnisse im Bezug auf die menschlichen Grundbedingungen der Kenose und Transzendenz in den Fokus. Die geschlechtlichen Merkmale sind dem menschlichen Leib im Unterschied zu anderen Organen eingeschrieben, weil sie die Form der physischen Erscheinung ausmachen (vgl. 115). So wie das biologische Fortzeugen ein Überschreiten der eigenen Geschlechtlichkeit für den welthaften Menschen bedeutet, ist die Erkenntnis im Sinne einer Selbst-Bezeugung ein Überschreiten nach Innen, sofern der Mensch ebenso ein geistiges Ich ist. "Hier wird die pure Immanenz verlassen (oder kann verlassen werden) und die ‚Transzendenz im Kleinen' entspricht dann der ‚Transzendenz im Großen', sofern ich als ‚Ich' nicht welthaft, sondern geistig bin." (152) Mit dieser Zielthese schließt die Verfasserin ihre Arbeit im vierten Teil ab.
An der Form des Inhaltsverzeichnisses lässt sich anmerken, dass eine etwas feinere Gliederung in Anbetracht des Umfangs zu erwarten wäre. Dennoch ist die Struktur klar und nachvollziehbar. Im Fußnotenapparat liefert Martini stellenweise zu lang geratene Zitate. Abgesehen von solchen weniger gravierenden Kritikpunkten ist es Martini gelungen diese wichtige Thematik in einer umfangreichen Fassung zu präsentieren und zu verdeutlichen, dass Geschlechtlichkeit nicht zu einem Zusatz oder Sonderbereich im Menschen degradiert werden kann.
Die Mehrdimensionalität der Deutungen wird im zweiten Kapitel mit dem Durchgang durch verschiedene Sichtweisen der Geistesgeschichte offengelegt, wobei bereits in der Einleitung der Hinweis auf die gewollte Grundlinie des Weiterdenkens markiert wird, nämlich die in der langen Tradition der personalen Würde des Menschen fehlende Bedeutung der Geschlechtlichkeit. Es gehört zu den Stärken von Martinis Arbeit, dass sie in ihrer Redlichkeit die Frage nach dem auffallenden Ausbleiben einer Entfaltung der Geschlechteranthropologie, die dem biblischen Zeugnis tatsächlich entspricht, nicht ausblendet, sondern explizit aufgreift. Auch die mit den kritisierten Geschlechterrollenzuschreibungen von Butler und Irigaray verbundenen Unschärfen hat die Verfasserin durchgängig kontrollierend im Blick. Sie vermag es, die einseitige Sicht auf die Frau als Zusatzattribut des Mannes als überwunden zu plausibilisieren und gleichzeitig die Kritik dafür zu schärfen, dass der Sinngehalt der Geschlechtlichkeit dennoch nicht erfasst wurde. Die durchweg gut verständlich verfasste Arbeit beeindruckt durch eine weitreichende Analyse - begonnen bei den Stammes- und Natur- bis hin zu den großen Weltreligionen. Die Verfasserin analysiert dies besonders im Hinblick auf die Frage nach einem Überstieg hin zu einem Du. Es gelingt Martini neben der differenzierten Darstellung der Unterschiede aller religiösen Kontexte, die Gemeinsamkeit herauszustellen: Hinter dem Streben nach Transzendenz und angesichts der Unvollkommenheit der Zweigeschlechtlichkeit ist deutlich die "Sehnsucht nach Gänzlichung" (104f.) zu erkennen.
Im Prozess der menschlichen Ich-Entwicklung nimmt die Geschlechtlichkeit den Status eines "notwendige[n] Durchgangsstadium[s]" (186) im Sinne eines Katalysators ein. Zu dieser philosophischen Annahme wird Martini durch Überlegungen von theologischer Seite geführt. "Was in der Erfahrung aufscheint als die Phänomene Liebe, Leben und Leiblichkeit, wird vor dem religiösen (und insbesondere dem biblischen) Horizont erst wirklich deutlich und philosophisch einholbar und denkbar." (183) Dies gilt insbesondere für die geschlechtlichen Zuordnungen in der Bibel, wobei ein besonderer Aspekt der Argumentation der Verfasserin darin liegt, dass im Inkarnationsgeschehen, im leiblichen Verkörpertsein Christi, Transzendenz ins Absolute und Transzendenz ins Ich zusammenfallen und sich so der Vollzug einer Kenose ohne Selbstverlust ereignet. Die weitere Ausdeutung von Kenose und Transzendenz im Bezug auf die geschlechtliche Leiblichkeit jedes Menschen lassen eine Parallele erkennen, weil der sich bei einem scheinbar ins Leere führende kenotische Daseinsvollzug die Möglichkeit einer Wende eröffnet, die das selbst durch ein Transzendenzgeschehen tatsächlich zu sich selbst zurückführt. So gesehen führt uns unsere geschlechtliche Verfasstheit, die sich im Phänomen der Liebe ausdrückt, zu uns selbst in der Weise zurück, dass von einem höheren Ich- Gewinn gesprochen werden kann. Darin findet die Ausgangsthese der Arbeit ihr argumentatives Ergebnis. Ich kann mich daher nur der Hoffnung der Verfasserin anschließen, dass es zu soziologischen, und theologischen Weiterforschungen beitragen wird. Demzufolge ist die Arbeit besonders allen theologisch interessierten Philosophen, aber ebenso auch Theologen und Soziologen zu empfehlen.
Michaela Starosciak
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