Joachim Feldes

Das Phänomenologenheim

Der Bergzaberner Kreis im Kontext
der frühen phänomenologischen Bewegung

AD FONTES
STUDIEN ZUR FRÜHEN PHÄNOMENOLOGIE Band 1

Rezension


Längst überfällig erscheint nicht nur aus philosophischer und philosophiegeschichtlicher Sicht diese Gesamtdarstellung des erst von H. Spiegelberg so genannten "Bergzaberner Kreises" (S. 9.10) als einer wesentlichen "Keimzelle" und eines pointierten "Netzwerkes" innerhalb der frühen phänomenologischen Bewegung. "Herz und Zentrum" dieses Kreises bildet das Ehepaar Hedwig Conrad-Martius und Theodor Conrad, das 1911/12 im Namen gebenden pfälzischen (heute Bad) Bergzabern mit der Bewirtschaftung einer "Obstplantage" (S. 11) beginnt, um philosophische Tätigkeit, praktische Landwirtschaft und Existenzsicherung zu verbinden. In ihrem gastlichen Haus treffen sich die weiteren fünf Mitglieder in .den folgenden Jahren regelmäßig (mit Unterbrechung in der Zeit des Ersten Weltkriegs) bis in die 30erJahre des 20. Jahrhunderts: Jean Hering, Alexandre Koyré, Hans Lipps, Alfred von Sybel und eben die spätere Karmelitin Edith Stein (1891-1942). Letztere bezeichnet (gegenüber Roman Ingarden) den Kreis als "Allgemeines Phänomenologenheim" und "Phänomenologenhaus" (Zitate S. 10.11.117 [mit 2 unkorrekten Belegstellen, s. u.] und S. 118). Feldes verwendet davon abgeleitet mehrfach (auch im Titel seines Buches) die Bezeichnung "Phänomenologenheim", unterlässt allerdings eine wissenschaftliche Analyse und Einordnung dieser Bezeichnung, die deutlicher als die Bezeichnung "Kreis" die institutionelle Absicht dieser Gruppe innerhalb der Phänomenologie zum Ausdruck bringt (S. 76: "Aufbau eines zentralen phänomenologischen Institutes", vgl. S. 63f) und die zudem die authentische Bezeichnung eines seiner Mitglieder darstellt.

Feldes referiert ausführlich und prägnant (insbesondere S. 17 und in Kap. 2, S. 20-77, sowie S. 143) die Vorgeschichte, die Entstehungsgründe, die Ausprägungen und die Beziehungen dieses "Phänomenologenheims" und seiner Mitglieder zur "Phänomenologischen Bewegung" insgesamt. Angemerkt sei: Eine konzise Kurzbiographie der "Sieben" wäre an dieser Stelle wohl hilfreicher gewesen als die verstreuten Angaben in den einzelnen Kapiteln. Diese Gruppe entstammt der "Philosophischen Gesellschaft" in Göttingen und distanziert sich - unter starker Orientierung an Husserls dortigem Assistenten Adolf Reinach - mit Max Scheler und den "Münchener" Phänomenologen zunehmend von der "transzendentalen Wende" des "Meister"-Phänomenologen, die in seinen "Ideen ..." 1913 zutage tritt. Dagegen wollen die "Bergzaberner" dem phänomenologischen Realismus der "Logischen Untersuchungen" treu bleiben und - mit der deklarierten Absicht, dem "ursprünglichen" Husserl Geltung zu erhalten und zu verschaffen- "die eigentliche Phänomenologie aufrecht[.]erhalten" (Avé-Lallemant, zit. S. 14). Eine doppelte Zäsur verstärkt diesen Abstand: 1916 Husserls Annahme eines Rufes nach Freiburg und im November 1917 der für alle Beteiligten, besonders auch Edith Stein, erschütternde Tod Reinachs an der Kriegsfront. Reinach scheint - auch über seinen Tod hinaus - der "spiritus rector" der Gruppe gewesen zu sein, war aber nach allem nie in Bergzabern. Insofern konstituiert sich die Gruppe am dichtesten in der Zeit ab 1919, als Edith Stein ihre kurze Assistentenstelle bei Husserl in Freiburg wegen der bekannten Unvereinbarkeiten aufgegeben hatte und dort der Stern ihres Nachfolgers Martin Heidegger aufzugehen begann. "Nicht zuletzt ist es ein religiöser Grundzug, der sich bei einem Teil der Gruppe bemerkbar macht, ... in unterschiedlicher Intensität, der sich aus der teilweise sehr vertrauten Nähe zu Reinach erklärt" (S. 76). Edith Stein wird sich früh intensiv dessen religionsphilosophischem Nachlass widmen (zur Vorbereitung einer Edition) und erwähnt noch in ihrer Autobiographie den starken Einfluss der Religionsphilosophie Schelers. Mit alldem können Husserl und Heidegger (der faktisch den entgegengesetzten Weg geht, weg von der katholischen Prägung seiner Kindheit und Jugend) ebenso wenig anfangen wie Roman Ingarden, der erfreulicherweise Edith Steins umfassende und inhaltlich wertvolle und aufschlussreiche Korrespondenz an ihn der Forschung und der Edith-Stein-Gesamtausgabe (in einem eigenen Briefband) zur Verfügung stellte (leider ohne seine eigene, die Edith Stein nicht aufbewahrte). Das Ende der Lehrtätigkeit Husserls 1930, die "Machtergreifung" 1933 und auch Husserls Tod 1938 bewirken schließlich eine Zerstreuung dieser Gruppe; Hans Lipps, Alfred von Sybel und Edith Stein kommen im Zweiten Weltkrieg ums Leben.

In diesem Zusammenhang würdigt Feldes die auch von seinen Vorstudien zu dieser Arbeit eingeleitete "Korrektur der jahrzehntelang tradierten Legende" ihrer nächtlichen "Konversion" (S. 11-42 mit Anm. 15 und 16), die u. a. Edith Steins Nichte S. Batzdorff, die erste solide Biografin Sr. M. Amata Neyer und P. Ulrich Dobhan schon lange vehement fordern. Mit vollem Recht plädiert er zudem für die überfällige Korrektur der "Merkwürdigkeit" (S. 12) in bisherigen biographischen Darstellungen Edith Steins, ausgerechnet diese überaus entscheidende "Bergzaberner" Phase gegenüber und in Verbindung mit der nachfolgenden "Speyerer" Phase zu vernachlässigen. Gerade in ihrer persönlichen und geistigen Entwicklung spielen die Kontakte (zu) dieser Gruppe eine entscheidende Rolle, die Edith Stein prägte und auch von ihr geprägt wurde, gerade auf ihrem Weg zu Taufe und Christentum. Selbstverständlich haben Teresa von Avila und Thomas von Aquin an "der größten Entscheidung meines Lebens" (ESGA 1, 189) entscheidenden Anteil, wie sie selbst bekanntermaßen bezeugt. Doch auch die Einbindung der durchaus "sozialen" Edith Stein in diese Gruppe mit ihrem Ringen auch um persönliche religiöse Fragen darf nicht länger unterschätzt werden. Folgerichtig stellt Feldes diese "religiösen Fragen" und Entwicklungen ausführlich im Zusammenhang mit der Gruppe und vor dem Hintergrund ihrer Werke dieser Zeit ("Psychische Kausalität" / "Individuum und Gemeinschaft ", beide 1922 veröffentlicht, sowie "Untersuchung über den Staat", 1925 veröffentlicht) dar (S. 100-117.127-132.144-148.175.180-183) und schließt somit hervorragend diese bisherige Lücke in der Zeit ihres Rückzuges nach Bergzabern.

Letztendlich allerdings ist mit Feldes zu konstatieren, dass die "Bergzaberner ... scheitern in ihrem Versuch, die phänomenologische Bewegung vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren, ganz zu schweigen davon, die Bewegung auf das Phänomenologenheim hin zu einen" (S. 184). Ob das vor allem an der Rolle und am zunehmenden Einfluss Heideggers liegt, wie Feldes suggeriert, mag der Rezensent nicht zu entscheiden. Ihre Zurücksetzung als "philosophische Insel" (so Husserl laut S. 284 ohne Belegangabe!) und "Reinach-Theologen" haben sie generös gekontert mit anhaltendem Respekt gegenüber ihrem "lieben Meister" (Edith Stein). Es schmälert nicht die Bedeutung dieser Gruppe "in persönlicher wie philosophischer Hinsicht"; daneben spielt "die religiöse, Dimension eine ganz entscheidende, die politische zumindest eine nicht zu vernachlässigende Rolle" (S. 284). Feldes' Fazit bleibt nichts hinzuzufügen: "bis zur Entscheidung Steins, sich der religiösen Gemeinschaft des Karmel anzuschließen, bildet der Kreis doch für alle sieben einen entscheidenden Fokus ihres persönlichen Lebens und wissenschaftlichen Wirkens". Die "religiöse Dimension als Charakteristikum des Bergzaberner Kreises ... prägt einen Großteil der Gruppe existentiell und hinsichtlich des Betätigungsfeldes fördert aber zugleich die Skepsis, die den Bergzabernern [sich] von außen, etwa von Ingarden und Husserl entgegengebracht wird. So bezeichnend die religiöse Dimension für die Gruppe ist, so sehr wird sie dem eigenen Anspruch zum Hemmschuh. Das leidenschaftliche Engagement für die eigene, als absolut berechtigt eingestufte Sache des Glaubens und seiner Bedeutung als Grundlage für die Phänomenologie, wie sie besonders bei Conrad-Martius und Stein durchschlägt, trägt entscheidend zur geringen Auswirkung auf die Bewegung bei" (S. 285).

Insofern liegt die eigentliche Bedeutung dieser Gruppe - aus der Sicht der Edith-Stein-Forschung, der sich der Rezensent verpflichtet fühlt - in dieser bewussten philosophischen Durchdringung der Sphäre des Glaubens, die jetzigen Zeiten und Fragestellungen voraus diese beziehungsreich antizipiert. Feldes abschließend dargestellte Impulse für diese Forschung können als Verpflichtung verstanden und umgesetzt werden: "Komplementarität von Bergzabern und Speyer im Leben Edith Steins", "Joseph Schwind und Martin Heidegger als Sehhilfen". Und nicht zu vergessen ihre "integrative und bleibend herausfordernde Persönlichkeit" (S. 288-292).

Praktisch hilfreich ist - neben dem ausführlichen Literaturverzeichnis und Register - die Zusammenstellung der zitierten Korrespondenz (in) der Gruppe (S.293-307) und die "Bibliographische Synopse 1946 -1969" (S. 272-283). Einige Flüchtigkeitsfehler, die aufzulisten eine gute Rezension im Hinblick auf eine entsprechend korrigierte Neuauflage verpflichtet ist, trüben keineswegs den dankens- und empfehlenswerten Gesamteindruck dieser Arbeit.

Felix M. Schandl 0. Carm, Köln


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