Joachim Feldes

Das Phänomenologenheim

Der Bergzaberner Kreis im Kontext
der frühen phänomenologischen Bewegung

AD FONTES
STUDIEN ZUR FRÜHEN PHÄNOMENOLOGIE Band 1

Rezension


Edith Stein und das "Phänomenologenheim"

Wichtige, prägende Jahre hat Edith Stein in der Pfalz verbracht. Hier begann die Einübung der späteren Karmelitin im katholischen Glauben. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin bei den Dominikanerinnen in Speyer (1923-1931) blieb sie auch als Philosophin aktiv und hatte einen engen Bezug zu Bergzabern und ihren Phänomenologen-Freunden vom "Bergzaberner Kreis".

"Im übrigen schaffe ich Bücher für eine gemeinsame Bibliothek in Bergzabern ein. Denn das ist ja das allgemeine Phänomenologenheim", ließ Edith Stein im Oktober 1921 Roman Ingarden wissen. Ein Jahr später kam sie wieder auf das Thema zu sprechen: "Hier waren in diesem Monat zum ersten Mal alle Kinder des Hauses versammelt: Sybel, Hering, Koyré (mit Frau) und ich. Auch Lipps ist für einige Tage da", schrieb sie ihrem polnischen Kollegen und Freund, später einer der führenden Denker seines Landes, im munteren Tonfall, der so charakteristisch ist für ihren Briefstil. In Bergzabern, im Haus von Theodor Conrad und Hedwig Conrad-Martius, war offenbar etwas im Gange, woran die junge Philosophin am Beginn ihrer Jahre in der Pfalz mit Freude und Enthusiasmus teilnahm.
Was war das für ein Zentrum, das da fernab der Universitäten in einem kleinen pfälzischen Städtchen entstehen sollte? Und was wurde daraus? In den Kapiteln der Philosophiegeschichte, die der "phänomenologischen Bewegung" gewidmet sind, wurde diese Geschichte erst 1960 auf einen Begriff gebracht, als der US-amerikanische Chronist dieser Bewegung, Herbert Spiegelberg, etwas vage vom "Bergzabern Circle", dem "Bergzaberner-Kreis", sprach - seither freilich eher ein Fußnoten-Thema.
Die Geschichte dieses Kreises hat erst in jüngster Zeit Joachim Feldes aufgehellt. Der Geistliche, der als Kaplan in Bad Bergzabern (das "Bad" gehört seit 1963 zum Ortsnamen) tätig war und heute eine anglikanische Gemeinde in Ludwigshafen betreut, hat seine Doktorarbeit diesem Thema gewidmet, das auch für die Sicht auf Steins Speyerer Jahre von Belang ist. "Im Allgemeinen wird Edith Stein nur hinsichtlich ihrer Taufe mit Bergzabern in Verbindung gebracht. Aber sie kommt ja immer wieder dorthin zurück", sieht Feldes im Gespräch Bergzabern tiefer in der Biographie Steins verankert, als allgemein wahrgenommen wird. Auch die häufig vermerkte Tatsache, dass sie in Speyer außerhalb des Klosters St. Magdalena, wo sie von 1923 bis '31 Lehrerin war, kaum Kontakte hatte, erklärt sich Feldes mit ihren Freunden in Bergzabern.

Das Institut ist eine Utopie geblieben, doch traf sich der Kreis regelmäßig.

Seine Nachforschungen, für die er den Nachlass der sieben "Bergzaberner" gesichtet hat, führen Feldes zwar zu dem Schluss, dass das philosophische Institut selbst eine "Utopie" geblieben ist. Aber der Kreis traf sich doch über Jahre hinweg mindestens einmal jährlich. Auffällig sei die enge Verbundenheit der sieben in den wechselvollen Zeiten - kein Brief, in dem man sich nicht nach dem Wohlergehen der anderen, nach Nachrichten von ihrem Tun und Verbleiben erkundigt hätte.
Die Vorgeschichte des Kreises führt nach Göttingen und hat mit einer der glanzvollsten Denkerpersönlichkeiten der Jahrhundertwende zu tun, mit Edmund Husserl, dem Vater der Phänomenologie - tiefer als jede andere geistige Strömung hat sie das Denken des 20 Jahrhunderts geprägt. So spröde seine Werke wirken mögen: Husserl vermochte damals über Deutschland hinaus die intellektuelle Jugend zu begeistern. Der Impuls eines fundamentalen Neubeginns ging von ihm aus.

Während die Philosophie im pragmatischen Geist der Gründerjahre entweder alten Vordenkern nachhing (Neukantianismus) oder Kurs nahm auf eine Kult des Irrationalen und des Erlebens (Lebensphilosophie), verhieß Husserls Schlachtruf "zu den Sachen selbst" eine Weg, die Dinge in einem neuen, ursprünglichen Licht zu sehen. Alles konnte wieder Thema werden - befreit aus alten Begriffskäfigen und neu betrachtet gerade unter bewusstem Absehen von allem Vorwissen und Vorurteil, so eben, wie jede Erscheinung sich von sich selbst her zeigt und im Bewusstsein als Phänomen aufbaut. So betrachtet, konnte Wirkliches ebenso seine Anspruch anmelden und auf seinen Wesensgehalt hin analysiert werden wie Phantasiertes, Stimmungen, Gefühle - Edith Stein etwa schrieb ihre Doktorarbeit über die "Einfühlung", ein Ausgangpunkt ihrer Arbeiten zum Aufbau der Person. Es mag kein Zufall ein, dass gerade dieses Denken dem Religiösen wieder Raum gab. Auffallend viele Phänomenologen konvertierten, fanden, zum Glauben. "Von Anfang an muss wohl in der lntuition jener neuen philosophischen Richtung etwas ganz Geheimnisvolles verborgen gewesen sein, eine Sehnsucht zurück zum Objektiven, zur Heiligkeit des Seins, der ‚Sachen selbst'", charakterisierte der Münsteraner Philosoph Peter Wust diesen Neuaufbruch.

Ein weiteres Arbeitsfeld tat sich nun auf - Husserls Göttinger Assistent Adolf Reinach etwa soll sich sogar mit seinen Studenten ein Semester lang phänomenologisch mit einem Briefkasten auseinandergesetzt haben. Die Phänomenologie war zudem von Anfang an ein kommunikatives Geschäft, das die intellektuellen in Zirkeln und Projekten zusammenführte. Und erstmals spielten darin Frauen eine bedeutende Rolle, allen voran Hedwig Martius (1888-1966), die 1910 als eine der ersten Frauen in Deutschland einen Doktortitel in Philosophie erwarb - in Preußen waren Frauen überhaupt erst ab 1908 zum Studium zugelassen.
Durch eine Zeitungsnotiz über einen akademischen Preis, den Martius als Studentin Husserls gewonnen hatte, wurde Edith Stein damals Studentin in ihrer Heimatstadt Breslau, auf ihre spätere Freundin "Hatti" wie auch auf die Phänomenologie aufmerksam. Als sie selbst 1913 zum Studium nach Göttingen kam, hatten sich die Conrads-Hedwig Martius hatte 1912 ihren Kommilitonen Theodor Conrad (1881-1969) geheiratet, der familiäre Wurzeln in der Südpfalz hat - allerdings bereits nach Bergzabern zurückgezogen, wo sie in einem Haus, das Conrad geerbt hatte, vom Ertrag einer Obstplantage lebten. Obwohl hochbegabt, hatte Hedwig Conrad-Martius als Frau zu dieser Zeit keine Aussicht auf eine akademische Karriere, ein Schicksal, das Edith Stein, die selbst vier erfolglose Anläufe auf eine Habilitation unternahm, mit ihr teilen musste - erst 1950 sollte sich in Deutschland einer Frau (Katharina Kanthack) der reguläre. Weg zu einer Philosophieprofessur öffnen.

Edith Stein und "Hatti", die 1922 Patin bei ihrer Taufe in Bergzabern und 1934 bei ihrer Einkleidung im Kölner Karmel dabei war, lernten sich erst 1920 kennen; bei einem Phänomenologentreffen in Göttingen. Beide Frauen fanden ein herzliches Verhältnis zueinander. Auf die Einladung nach Bergzabern für das folgende Jahr hin sollte Stein gleich mehrere Monate in dem Haus im damaligen Eisbrünnelweg (heute Neubergstraße 16) verbringen. Die erwähnte kommunikative Ader in der Bewegung kam unter anderem in der Gründung der "Philosophischen Gesellschaft Göttingen" zum Ausdruck, die insofern hier Erwähnung verdient, als der Bergzaberner Kreis aus ihren Reihen hervorgegangen ist. In der Korrespondenz der späteren "Bergzaberner" hat Feldes Belege dafür gefunden, dass in dieser Vereinigung schon früh der Plan eines phänomenologischen Instituts oder Archivs im Gespräch war. Das ist einem von Feldes gefundenen Brieffragment Jean Herings (1890-1966) - später ein renommierter neutestamentlicher Theologe in Straßbourg und Vermittler der Phänomenologie in Frankreich - zu entnehmen. 1915 sprach er auch von einer Stiftung. Ein kanadischer Kommilitone, Winthrop Bell, stellte eine stattliche Summe zur Verfügung für die Anschaffung von Büchern - davon spricht Edith Stein im eingangs zitierten Brief an Ingarden.

Die "Bergzaberner", zu denen neben Stein, Hering und den Conrads der aus Russland stammende Alexander Koyré (1892-1964), später ein bedeutender Wissenschaftshistoriker in Frankreich, der existenzialistisch angehauchte Philosoph und Mediziner Hans Lipps (1889-1941) und der Anthroposophie zugeneigte Alfred von Sybel (1885-1945) gehören, brachten den "realistischen" Geist der Göttinger mit in die Diskussionsrunden am Pfälzerwald. Sie einte eine gewisse Skepsis gegenüber dem Fortgang von Husserls Denken. Während sie den Meister, im "reinen Ich", Kurs nehmen sahen auf einen Subjektivismus, eine geistige Nabelschau, der man grade entfliehen wollte, hielten sie fest am ursprünglich realistischen Ansatz, am Denken von der Sache, vom Sein her.

In den Kriegsjahren - bemerkenswert: Lipps stand auf deutscher Seite im Feld, Koyré zuerst auf russischer, dann auf französischer - verstärkten die freundschaftlichen Kontakte umso mehr, als sie sich kriegsbedingt erschwerten. Von Sybel etwa half in dieser Zeit den Conrads, ihre Münchner Zweitwohnung zu verkaufen, die sie sich nicht mehr leisten konnten. Tiefe Spuren grub ein anderes Ereignis: 1917 fiel an der Front der bereits erwähnte Adolf Reinach, der von den Göttinger Studenten so verehrte Hochschullehrer und Wortführer des realistischen Kurses der Phänomenologie. Die Erschütterung ging tief. Mit ihrer Idee, einen Reinach-Gedenkband zusammenzustellen, fand Edith Stein bei Hering und Conrad-Martius Gehör - Entwicklungen, die die Bande zwischen den Freunden stärkten.

Vom Tod Reinachs war vor allem Edith Stein tief betroffen. Einschneidend wurde er für sie in zweierlei Hinsicht; denn zum menschlichen Verlust gesellte sich als richtungsweisende Erfahrung die Haltung der Witwe Anne Reinach: Die Zuversicht, die sie aus ihrem christlichen Glauben schöpfte, hinterließ bei der Jüdin, die lange in Glaubensfragen eher indifferent, wenn nicht gar atheistisch eingestellt war, einen tiefen Eindruck. Und anders als in ersten Biografien geschildert, waren es Anne und Pauline Reinach, die Edith Stein die Autobiografie der Heiligen Teresa von Avila mitgaben. Deren Lektüre während ihres ersten Besuchs in Bergzabern wurde zum ausschlaggebenden Moment ihrer Konversion - am Ende eines langen, komplexen Prozesses und im Anschluss an Lebenskrisen und Enttäuschungen. Dazu zählen die unerwiderte Liebe zu Ingarden und später zu Lipps sicher ebenso wie die für sie unbefriedigende Zusammenarbeit mit Husserl, dem sie als Assistenten nach Freiburg gefolgt war, oder die unklaren beruflichen Perspektiven - und nicht zuletzt ihre in der Philosophie an Grenzen stoßende Wahrheitssuche. Die Öffnung zum Glauben band Stein und "Hatti", die eine ähnliche Entwicklung vollzog, sich aber einer evangelischen Freikirche anschloss, enger aneinander.

Gegen Ende der 1920er Jahre werden die Treffen in Bergzabern seltener.

Dass der Kreis gerade in Bergzabern regelmäßig zusammenfand, hat eine gewisse Logik, auf die Feldes verweist: Die Conrads sind letztlich das "stationäre" Moment für die von ihren Karrieren durch die akademische Welt umhergetriebenen Freunde. Protokolle darüber, was sie bei ihren Treffen beredet haben, gibt es natürlich nicht. Doch, es liegt in der Natur der Sache, dass die Denker hier besprachen, woran sie jeweils gearbeitet haben, ihre beachtliche Produktivität in diesen Jahren hat Feldes akribisch aufgearbeitet. In vielen ihrer Werke ist daher der Niederschlag ihrer Diskussion in der Pfalz enthalten. Auch Übersetzungen wurden verabredet, so übertrug Stein Koyrés "Descartes und die Scholastik" ins Deutsche.

Gegen Ende der 1920er Jahre wurden die Treffen seltener. Wirtschaftliche Not zwang die Conrads, die Zimmer, die bislang dafür genutzt wurden, zu vermieten.1937 geben sie die Obstplantage auf und zogen wieder nach München. Feldes sieht zudem im Einfluss der Philosophie Martin Heideggers, der in Freiburg Husserls Nachfolger wird, eine zunehmend spaltende Kraft.
Die Verheerungen, die die kommende Zeit auch für den Kreis bereithielt mit Krieg und Nazi-Terror, treten krass zutage, wenn man dem Schicksal Edith Steins etwa den Eintritt von Sybels in die NSDAP gegenüberstellt oder die Unterschrift, die Lipps - dem Soldatischen und Kriegerischen als Ort existenzieller Bewährung zugeneigt - mit vielen anderen unter ein Bekenntnis deutscher Hochschullehrer zum NS-Staat gesetzt hat. Er fiel 1941 an der Ostfront. Von Sybel kam 1945 ums Leben, wohl bei der Deportation durch die Rote Armee.
Die Conrads, Hering und Koyrè blieben in Kontakt, wie Feldes darlegt. Hering wie auch Koyré , der wie Stein jüdischer Abstammung war und nach dem Krieg zu Deutschland auf Distanz ging, gelangen glanzvolle Karrieren. Koyré lehrte mehrfach in Kairo und emigrierte von dort 1941 in die USA, um ab 1945 wieder in Paris zu wirken. Conrad-Martius erhielt 1955 eine Honorarprofessur in München und hinterließ als hoch angesehene Naturphilosophin ein beeindruckendes Lebenswerk.

Thomas Behnke


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