Das Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg war in der Bundesrepublik immer präsent. Gleichzeitig war es immer ein Problem-Thema mit Polarisierungs-Potenzial. Und es hatte eine scheinbar als gegeben empfundene Heimat im konservativen Lager. Das hat sich auch oder gerade nach Brandts Entspannungs-Ostpolitik und der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie nicht geändert. Selbst heute hängt dem Thema noch etwas Konservatives, schärfer formuliert, Verstaubtes und Ewiggestriges, noch schärfer formuliert, etwas Revisionistisches und Revanchistisches an. Ein Grund dafür ist sicherlich Erika Steinbach, die langjährige Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, dem großen Interessenverband der Heimatvertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler. Ihr wurde des Öfteren vorgeworfen, mit ihren Äußerungen die Verbrechen des Nationalsozialismus zu verharmlosen und sich nicht klar zur Oder-Neiße-Linie als Deutsche Ostgrenze zu bekennen. Ein anderer Grund ist sicherlich, dass die politische Linke das Vertriebenen-Thema über Jahre "zum Tabu erklärt" hat wie der Grünen-Politiker Omid Nouripour 2010 feststellte. Seiner Meinung nach sei es aber im Kern richtig, auf das individuell erlittene Unrecht der Vertreibung aufmerksam zu machen. Frau Steinbach ist inzwischen durch Bernd Fabritius abgelöst worden, der sich bemüht, dem Verband auch vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsströme nach Europa und Deutschland ein anderes Image zu geben. Gerade durch die eigene Erfahrung könne Empathie für die Lage von Flüchtlingen werden hieß es auf dem Festakt des diesjährigen "Tages der Heimat", der unter dem Motto "Vertreibungen sind Unrecht - Gestern wie heute" stand. Fabritius weitet auch eigene Beratungs- und Integrationsarbeit auf alle auszuweiten, die in Deutschland Asyl erhalten haben. Das ist ein längst überfälliger Schrift auf dem Weg vom konkreten Dualismus hin zur Verurteilung des Prinzips.
Nun rückt auch das unmittelbare Ereignis unaufhaltsam ferner in die Geschichte hinein. Die Flüchtlinge und Vertriebenen von damals haben inzwischen Kinder, Enkel und sogar Urenkel, die Schlesien, Pommern oder Ostpreußen nur noch aus den Erzählungen kennen. Martin Lätzel ist einer davon. In seinem Buch "Alte Wurzeln- Neue Heimat" widmet er sich ausführlich der eigenen Familiengeschichte. Die Vertreibung der Großmutter mit ihren vier Kindern aus dem Heimatdorf am Fuße des Riesengebirges, die Zwischenstationen in Flüchtlingslagern und schließlich die Ankunft im Ruhrgebiet dienen jedoch nur als exemplarische Beschreibung: "So oder so ähnlich sieht das biografische Schicksal vieler Kinder und Kindeskinder aus, die zwar im Westen geboren wurden, aber als Kind von Eltern, die aus dem Osten kamen und oft Schreckliches erlebt hatten." Ungefähr seit der Jahrtausendwende wird sich auch wissenschaftlich stärker mit den Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Kinder- und Enkelgeneration beschäftigt, insbesondere aus psychologischer Sicht und in Form von Traumabewältigung. Sei es das Schweigen der Eltern- oder Großelterngeneration, seien es vererbte Ängste und Blockaden. Die Journalistin Sabine Bode lieferte dazu einschlägige Literatur, Selbsthilfegruppen, sogenannte "Kriegsenkelgruppen" treffen sich regelmäßig deutschlandweit.
Martin Lätzel zieht in seinem Buch oft Autobiografische als BeispieI heran. Er gibt viel Privates preis, berichtet von der Reise ins Land seiner Großeltern und über seine Jugend im Ruhrgebiet. Trotzdem schreibt er keine Familiengeschichte - vieImehr bedient er sich seiner Biografie bei der Entwicklung seiner Argumentation. Martin Lätzel erzählt in "Alte Wurzeln - Neue Heimat" von VerhaItensweisen, die er bei sich entdeckt und glaubhaft auf seine Familienbiografie zurückführen kann. Er beschreibt auch prägende Erfahrungen aus Kindheit und Jugend - das große Ölbild über dem Sofa bei der Großmutter, das das niederschlesische Heimatdörfchen zeigte und das ihm zum Sinnbild wurde für eine Wirklichkeit, die es für viele seiner Altersgenossen nicht gab Er spricht vom Dilemma, nicht auffallen zu dürfen und trotzdem erfolgreich sein zu müssen, vor dem auch oder gerade die zweite Generation stand. Von "Trauma" aber spricht er nicht. Im Gegenteil. Martin Lätzel erweitert den Diskurs über die Folgen von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg um eine überraschende, positive Perspektive. Das ist, bei aller Wichtigkeit von Aufarbeitung und Traumabewältigung, auch bitter notwendig, denn Martin Lätzel richtet den Blick nach vorn, in die Zukunft.
Die Wurzeln dieser Generation mögen in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen liegen. Ihre Heimat aber nicht ihr Geburtsort in der Bundesrepublik - schließlich hing der Satz "Wir sind nicht von hier" bedeutungsschwer über ihrer Kindheit und Jugend. Diese Heimatlosigkeit löst Martin Lätzel auf, indem er sich selbst und seiner Generation Europa zur Heimat gibt. Und zwar ein Europa der Regionen, deren Mitte nicht etwa in Straßburg oder Brüssel liegt, sondern sehr viel weiter östlich. Ein Europa mit europäischer Perspektive, nicht mehr nur vom Westen in Richtung Westen. In dieser Hinsicht sieht Martin Lätzel die Enkel der Flüchtlinge und Vertriebenen aufgrund ihrer Biografie als Avantgarde Europas - als Vorreiter einer wahrlich europäischen Gesellschaft. Dafür wirft er seine eigene Familiengeschichte als Beispiel in den Ring. Als Beispiel, das macht er auch klar, könnte ebenso die Geschichte von "Pjotr aus Gdansk, dessen Eltern aus Lernberg stammten" gelten. Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ist Europäische, nicht allein Deutsche Geschichte. Enkelgenerationen gibt es nicht nur in der Bundesrepublik. Ihre Form der Heimatlosigkeit wendet er ins Positive: Europa als Heimat. Auf diese Weise führt Martin Lätzel den Heimat-Begriff scheinbar ad absurd um. In Wirklichkeit dekliniert er ihn nur ein paar Ebenen hinauf - quasi von der Scholle zum Kontinent - und überspringt somit die unsäglich und gefährliche Ebene der Nation. Einem Nationengleichen Europa mit nach außen abgeschotteten Grenzen erteilt er jedoch gleichfalls eine Absage: "Ich glaube, dass es zur Pflicht und Schuldigkeit der Menschen gehört, die Flucht und Vertreibung direkt erfahren haben, oder die aus einer Familie kommen, die Flucht und Vertreibung erfahren musste, jederzeit für die Aufnahme von Flüchtlingen und Heimatlosen einzutreten".
Angesichts wieder aufkeimendem Ost-West-Konflikts, angesichts der (vorerst
temporären) Wiederaufnahme von Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raumes, angesichts erstarkender nationalistischer Parteien in ganz Europa ist nur zu hoffen, dass die Enkelgeneration sich ihrer Verantwortung als "Kinder Europas" bewusst wird.
Für Sie gelesen von Kristof Warda
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