Bernd Jaspert

Existentiale Interpretation

Zur frühen Entmythologisierungsdebatte

Rezension


Mit dem Namen Rudolf Bultmanns ist bis heute das Schlagwort der Entmythologisierung untrennbar verbunden. Der Marburger Neutestamentler hatte die Forderung, die nfl. Botschaft müsse entmythologisiert werden, bereits 1941 in seinem in Frankfurt a.M. und in Alpirsbach gehaltenen Vortrag "Neues Testament und Mythologie", einem der wirk-mächtigsten theologischen Texte des 20. Jh.s, erhoben und eingehend begründet. An der Diskussion über sein Entmythologisierungsprogramm beteiligten sich bis Kriegsende lediglich einige Universitätstheologen und Mitglieder der Bekennenden Kirche. Ab 1947 aber nahm die Debatte über B.s Forderung sukzessive an Intensität, Umfang und Scharfe zu. Sie hielt die evangelische Theologie und Kirche, teilweise auch eine weitere Öffentlichkeit, bis etwa 1968 in Atem. Mit dem vorliegenden Büchlein liefert Bernd Jaspert einen Beitrag zur Aufarbeitung dieser von ihrem "Inhalt und Verlauf' her bislang noch nicht "im Einzelnen" rekonstruierten Debatte (7). Er bezieht sich dabei v. a. auf die 1949-1951 innerhalb der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau geführten Diskussionen, soweit sie aktenkundig geworden sind.

Der Einband und das Titelblatt des kleinformatigen Bandes weisen J. als dessen Vf. aus. Tatsächlich ist er der Hg. der Dokumentensammlung, die mit 119 Seiten den Hauptinhalt des Buches ausmacht. Auch in seiner Einleitung und in seiner knappen Schluss-betrachtung bietet J. viele - teilweise seitenlange - Passagen aus dem Entmyt-bologisierungsvortrag B.s, aus Publikationen von Paul Altbaus, Karl Herbert und Walter Schmithals sowie aus einem Brief des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm, dazu umfangreiche biographische Listen zu den angesprochenen Themen. Der Band ist durch ein Personenregister erschlossen.

Die Dokumente 1-8 gehören in das Umfeld einer von den beiden Evangelischen Akademien der hessischen Kirchen im Januar 1949 in Bad Orb veranstalteten Tagung für Pfarrer, auf der B. über "Die Entmythologisierung der christlichen Verkündigung" referierte. Gegen die Wahl B.s zu einem der Tagungsreferenten wandten sich in Protestschreiben an den kurhessen-waldeckischen Bischof und die Direktoren der beiden hessischen Akademien der Gemeinschafts-Evangelist Hans Bruns, der Kirchenälteste Bruno Offermann sowie die von diesem vertretenen "Altfreunde der Evangelischen Studentengemeinde" ‚ alle aus Marburg. Dass sie sich auf eine Sachdiskussion über die von B. aufgeworfenen Fragen einlassen wollten, ist ihren Briefen allerdings nicht zu entnehmen. Gleichwohl antworteten ihnen Bischof Adolf Wüstemann und Akademieleiter Hans-Rudolf Müller-Schwefe nach der Tagung. Sie betonten v. a., dass es um der Wahrhaftigkeit der kirchlichen Verkündigung willen erforderlich sei, die Denkanstöße B.s konstruktiv aufzunehmen. Unter theologischen Aspekten ist dieser Briefwechsel allerdings nicht sonderlich aussagekräftig.

Anders verhält es sich mit Dokument 9, der von Propst Karl Herbert (Herborn) im Auftrag der hessen-nassauischen Kirchenleitung verfassten Stellungnahme "Zur Frage der Entmythologisierung", die Kirchenpräsident Martin Niemöller am 13. November 1950 den Pfarrern der südhessischen Landeskirche zur weiteren Beratung zugehen lies. Herbert nämlich rief nicht nur die Kritiker B.s dazu auf, überhaupt erst einmal dessen Anliegen wahrzunehmen statt ihm vorschnell Ketzerhüte aufzusetzen, sondern stellte auch durchaus kompetent die mit dem Entmythologisierungsprograrnm verbundene hermeneutische Intention B.s heraus, zu einer existentialen Vergegenwärtigung des NT zu gelangen.

Auf dieser Basis zeigte Herbert an Beispielen auf, worin der Ertrag der existentialen Interpretation der mythotogischen Vorstellungen des NT für die Verkündigung und den Glauben in der Gegenwart bestehen konnte. Schließlich formulierte er behutsam auch einige kritische "Fragen und Bedenken" gegenüber dem Ansatz B.s. Die Stellungnahme Herberts durfte in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau erheblich zur Versachlichung der Debatte beigetragen haben. Als die Synode im Mai 1951 über zwei Eingaben zu beraten hatte, die den Ausschluss B.s aus dem Prüfungsamt der Landeskirche forderten, kam es zu einer insgesamt sachlichen Aussprache. In ihr überwogen Stimmen wie die Niemöllers, die den Versuch B.s, das ntl. Kerygma unter den Verstehensvoraussetzungen der Moderne neu zur Geltung zu bringen, grundsätzlich für berechtigt erklärten (Dokument 10). Die Synode beschloss dann auch mehrheitlich, den beiden Antragen auf Ausschluss des Marburger Theologen aus dem Prüfungsamt nicht zuzustimmen. Die mustergültig edierten Quellen hat J. mit akribisch recherchierten Erläuterungen zu den erwähnten Personen und Publikationen sowie mit Hintergrundinformationen zu einzelnen Sachverhalten sehr leserfreundlich eingerichtet. Darüber hinaus stellt er die Dokumente in seiner Einleitung in den weiteren historischen Kontext der Auseinander-setzungen tun B.s Entmythologisierungsprogramm. J. verfolgt hier auch über einige Stationen den Weg, der B. zur Ausarbeitung seines Entmythologisierungskonzeptes (als eines integralen Bestandteils seines hermeneutischen Verfahrens der existentialen Interpretation) führte. In diesem Kontext plädiert J. dafür, den Mythosbegriff B.s auf Paul Tillich (und damit indirekt auf Ernst Cassirer) zurückzuführen. Dieser Vorschlag wirkt zumindest interessant. Allerdings scheinen mir die dafür aus einem Lexikonartikel Tillichs von 1930 beigebrachten Zitate nicht hinreichend belastbar zu sein, um die von J. angenommene Genealogie stützen zu können. Einstweilen durfte die traditionelle,von B. selbst nahegelegte Auffassung, nach der er seinen Mythosbegriff primär aus der Religionsgeschichtlichen Schule bezog, die plausibelste sein. B. hielt im Übrigen die relative Weite und Unschärfe seines Mythosbegriffs, die bspw. schon Paul Althaus monierte, gerade für einen Vorzug, da er nämlich so sein eigentliches Anliegen deutlich machen könne, die ntl. Botschaft unter den Bedingungen der Moderne glaubwürdig zu vermitteln. Die gelungene Dokumentation eines Ausschnitts aus der kirchlichen Debatte über B.s Entmythologisierungvorstellungen sollte über ihren eigenen Wert hinaus auch als Anregung zur Erforschung der Diskussionen in anderen Landeskirchen aufgenommen werden. J. weist zu Recht darauf hin, dass eine Untersuchung, die "den Verlauf und die Ergebnisse der Entmythologisierungsdebatte in den einzelnen Kirchen (einschließlich der katholischen), in der kirchlichen und weltlichen Presse, an den Hochschulen und in der neutestamentlichen und systematischen Forschungsliteratur" erfassen würde, noch aussteht (180). Ob es je gelingen wird, eine solche Gesamtdarstellung von einer Kontroverse zu geben, die immerhin zwei Jahrzehnte die kirchlich gesinnten Gemüter beschäftigt hat?

Münster Konrad Hammann


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