BALDEGGERSEE
Lotteriegelder gegen das Desaster mit der Gülle
Seit über dreißig Jahren versucht der Kanton Luzern, den mit Gülle überdüngten Baldeggersee zu sanieren - und trotzdem geht
dem See die Luft aus. Die Chronologie eines agrarpolitischen Systemfehlers.
Berufsfischer Andreas Hofer fährt dem Ufer entlang und wirft grobmaschige Netze für den Hechtfang aus. Am andern Tag will er
den Fischen den Laich abnehmen und in Zuchtbecken aufziehen. Das macht er auch mit den Felchen, die sich im sauerstoffarmen
Baldeggersee nicht fortpflanzen können. "Erst wenn die natürliche Verlaichung der Felchen wieder gelingt, ist der See gesund",
sagt Hofer, "aber davon sind wir noch weit entfernt."
Der Baldeggersee zwischen den grünen Hügeln im Luzerner Seetal sieht idyllisch aus: keine verbauten Ufer, kein Rummel mit
privaten Motorbooten. Nur Andreas Hofer und sein Bruder dürfen als Fischereipächter über den See fahren. Der See gehört seit
1942 Pro Natura - er ist ein Naturschutzgebiet.
Warnung: Burgunderblutalgen!
Hofer fahrt in die Mitte des Sees und zeigt auf eine von mehreren Bojen. Rundherum steigen Luftblasen aus dem Wasser. Sie stammen
aus Diffusoren, die in 6~ Meter Tiefe Druckluft ausblasen. "Zwangszirkulation des Wassers" nennt sich das. Und noch etwas weist
daraufhin, dass mit dem See etwas nicht stimmt: Beim Weiler Retschwil steht ein großer Sauerstofftank. Der See Bauernverband
leidet schon seit Jahrzehnten unter zu hohen Phosphoreinträgen, die aus den massiv überdüngten landwirtschaftlichen Böden ausgewaschen
werden. Sie sind für kippen das übermäßige Algenwachstum und den Sauerstoffmangel verantwortlich. Deshalb wird der See jeweils
im Sommer mit Sauerstoff beatmet.
Andreas Hofer ist nicht nur Berufsfischer, sondern auch Vorstandsmitglied von Pro Natura Luzern und grüner Kantonsrat. Im
letzten Dezember hat er einen Vorstoß mit vielen Fragen über den Zustand des Sees eingereicht. Der Grund: 2015 ging dem
Baldeggersee die Luft aus.
Dafür gibt es mehrere Ursachen. Zum einen war der Winter 2014/15 zu warm, so dass sich das Wasser nicht mehr auf natürliche
Weise mit Sauerstoff anreichern konnte; zum
andern zahlt der Kanton seit 2012 aus Spargründen nichts mehr an die künstliche Seebelüftung.
Im Frühling 2015 gab es die ersten Alarmzeichen. Im See wuchsen Burgunderblutalgen. Sie gedeihen im überdüngten Wasser besonders
gut. Wenn sie absterben, sinken sie auf den Grund und werden von Bakterien abgebaut, die den Sauerstoff aufzehren. Dabei setzt
ein fataler Prozess ein: Im sauerstofflosen Wasser werden Phosphoreinlagerungen aus früheren Jahrzehnten rückgelöst. Der See
beginnt, sich selbst zu düngen.
Ab dem Sommer 2015 war die Wasserschicht bis drei Meter über dem Grund sauerstofffrei. Das gab es seit dreißig Jahren nicht mehr.
Der für die Seesanierung zuständige Gemeindeverband musste notfallmäßig zusätzlichen Sauerstoff in den See pumpen. Die Mehrkosten
betrugen 70000 Franken.
Und was tut der Kanton? WOZ-Recherchen zeigen: Die Finanzierung dieser Mehrkosten nimmt einen Verlauf, den man als überaus originell
bezeichnen kann - der Kanton zahlt das Geld wegen seiner leeren Kassen auf Antrag des Gemeindeverbandes aus dem Lotteriefonds.
Höchste Schweinedichte
"Das darf doch nicht wahr sein, dass sich der Kanton aus diesem Topf bedient", empört sich Andreas Hofer, "die Sanierung des
Baldeggersees ist eine Staatsaufgabe, die aus dem ordentlichen Budget finanziert werden muss." Doch der Kanton winkt ab. In einer
schriftlichen Stellungnahme schreibt er: "Die Verwendung von Lotteriegeldern (...) entsprach den gesetzlichen Rahmenbedingungen."
Die umstrittene Finanzspritze ist nur ein Tiefpunkt in der von Hoffnungen und Enttäuschungen geprägten Seesanierung. Die Probleme
reichen weit zurück. Ab 1900 kippten Dörfer und die Industrie im großen Stil ihre Abwasser in den See. In den siebziger Jahren
wurde das mit Abwasserreinigungsanlagen gestoppt. Doch dem See ging es nicht besser. Denn ab 1960 hatte die massive Intensivierung
der Landwirtschaft den See mit einer nie gesehenen Gülleschwemme geflutet. Auch der Sempacher und der Hallwilersee waren betroffen.
Ihnen geht es mittlerweile besser - der Baldeggerseebleibt ein Sorgenkind.
Bei den Überdüngungen spielt die Agrarpolitik eine zentrale Rolle. Das zeigt die Umwelthistorikerin Bettina Scharrer vom Centre
for Development and Environment der Universität Bern in ihrer 2013 publizierten Lizenziatsarbeit. In der vor einem Monat mit
einem Forschungspreis ausgezeichneten Arbeit "Dem Sempachersee kommt die Gülle hoch" liefert Scharrer neue Erkenntnisse über
die Landwirtschaftspolitik, die ab den sechziger Jahren von den Bäuerinnen mehr Produktivität in der Tierhaltung verlangte.
Der Kanton Luzern spielte mit, besonders massiv in der Schweinehaltung. Mit 425 000 Schweinen ist der Kanton landesweit Spitzenreiter,
die Region um die Mittellandseen, auch "Schweinegürtel" genannt, hat die höchste Schweinedichte der Schweiz. Allein im Einzugsgebiet
des Baldeggersees leben mehrere Zehntausend Sauen, breit verteilt auf mittelgroßen Betrieben.
Die Intensivierung funktionierte über die "innere Aufstockung". Darunter versteht man einen Ausbau der teils oder ganz bodenunabhängigen
Masttierhaltung auf der Basis von zugekauften, importierten Futtermitteln. "Der Boom war gewaltig", sagt Bettina Scharrer, "doch
mit mehr Futtermitteln wurde auch mehr Gülle produziert. Dabei fehlten aber die Landflächen, um die Gülle umweltgerecht auszutragen.
"Die Bauern taten es dennoch, und so wurden in den Boomjahren die Böden und auch die Seen tonnenweise mit Phosphor überdüngt.
Dazu muss man wissen: Schweinegülle enthalt besonders viel Phosphor.
Bei der Lösung der Seeüberdüngung spielen die Vertreterinnen der Intensivhaltung eine entscheidende Rolle. Es gelang ihnen, über
Jahrzehnte hinweg trotz künstlich belüfteter Seen die hohen Tierbestande zu halten und sich für Düngereinschränkungen entschädigen
zu lassen. "So konnten die Folgekosten für überdüngte Böden und somit für die Verschmutzung der Allmendressource Wasser der
Allgemeinheit aufgebürdet werden."
Die Konsequenzen waren heftig. Vor über drei Jahrzehnten starben Hunderttausende Fische. Doch eine Reduktion der Tierbestande,
wie sie von Gewässerbiologinnen, Pro Natura und von Links-Grün gefordert wurde, blieb chancenlos. Denn neben den Tiermästerinnen
und ihren Verbänden, so hat Scharrer festgestellt, profitieren auch die Futtermittel- und die Fleischindustrie von der intensiven
Tiermast: "Die Beteiligten waren sehr gut vernetzt. Noch 1991 schafften sie es bei der Revision des Gewässerschutzgesetzes,
für Aufstockungsbetriebe Ausnahmen zu erwirken, um die hohen Tierbestande erhalten zu können."
Die Profiteure der Misere
Selbst der ökologische Leistungsnachweis, der mit den Direktzahlungen verknüpft wird, bleibt ein schwacher Hebel. Das zeigt der
jüngste Versuch des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW). 2013 wollte es im Rahmen der Direktzahlungen das Güllen einschränken.
Das jedoch bekämpfte der Luzerner Bauernverband vehement und bekam dabei Unterstutzung vom kantonalen Landwirtschaftsamt. Der
Bauernverband wollte sogar sämtliche Güllevorschriften kippen. Pro Natura hingegen verlangte noch schärfere Einschränkungen,
und so blieb letztlich alles beim Alten. "Im Sinn eines Kompromisses haben wir auf die Verschärfungen verzichtet", sagt Victor
Kessler vom BLW.
Man darf das als Sieg der Tiermastlobby interpretieren. "Wir haben die Verschärfungen bekämpft, weil sie für uns im Vergleich
zu Bauern in andern Landesteilen zu einem Standortnachteil führen würden", sagt Stefan Heller, Geschäftsleiter des Luzerner
Bäuerinnen- und Bauernverbands. Einen Erfolg verbuchte das BLW dennoch: Nicht mehr alle Bäuerinnen bekommen Anreizzahlungen,
wenn sie überschüssige Gülle in andere Landesgegenden verfrachten, also "Gülletourismus" betreiben.
Davon betroffen ist auch der Jungbauer Konrad Jund. Er hält achtzig Zuchtsauen, da neben produziert er mit Rindern Weide-Beef
für die Migros sowie Erdbeeren und etwas Getreide. Sein Hof liegt in Romerswil, im Einzugsgebiet des Baldeggersees. "Ich muss
zwanzig Prozent meiner Gülle wegbringen", erzählt Jund. "Dafür bekam ich bisher 2000 Franken - doch für dieses Jahr ist mir
der Beitrag gestrichen worden."
Überhaupt ist Jund verärgert. Er ist überzeugt, dass die heutige Bauerngeneration keine Schuld an der Überdüngung des Baldeggersees
trifft: "Das Problem sind die Altlasten aus früheren Jahrzehnten; es ist falsch, mit dem Finger auf uns Bauern zu zeigen."
Leer geht Konrad Jund trotzdem nicht aus. Wie die meisten Bäuerinnen hat er mit dem Kanton im Rahmen von "Phosphorprojekten"
einen freiwilligen Seevertrag abgeschlossen: Wenn er insgesamt weniger und im Winter gar keine Gülle austragt sowie leicht
größere Pufferstreifen bei Gewässern und Wegrändern einhält, bekommt er Entschädigungen (150 Franken pro Hektare).
Diese Freiwilligkeit ist erklärte Strategie des Kantons Luzern. Franz Stadelmann von der Dienststelle Landwirtschaft und Wald
bestätigt: "Nicht die Reduktionen bei den Tierbeständen, sondern Einschränkungen bei der Phosphordüngung sollen im Zentrum stehen.
"Und er weist auf die Bedeutung der Landwirtschaft im Kanton hin: Sie erzielt eine Wertschöpfung von rund einer Milliarde Franken,
wovon siebzig Prozent aus der Tierhaltung stammen.
Im Klartext: Der Kanton verzichtet politisch aus Rücksicht auf die Einkommen bei den Tiermastern auf schärfere Maßnahmen. Der
Preis dafür ist hoch. Für die Sanierung der Mittellandseen haben die Steuerzahlerinnen schon über hundert Millionen Franken bezahlt.
Bei Pro Natura als Eigentümerin des Sees sitzt der Frust tief. "Der Kanton Luzern fährt immer noch die Anreizschiene, obschon es
nie ein Monitoring über den Erfolg der freiwilligen Maßnahmen gab", sagt Samuel Ehrenbold, Geschäftsführer von Pro Natura Luzern.
Und Berufsfischer Andreas Hofer doppelt nach: "Es hatte politische Entscheidungen gebraucht, die den Mastern wehtun. Doch das
Gegenteil ist passiert: Die Master bekommen Geld, damit sie den See nicht noch mehr kaputtmachen. Sie verdienen sogar mit der
ganzen Misere, statt dass sie für den Schaden geradestehen müssten."
Schwer verdauliche Mengen
Jetzt nimmt der Kanton einen neuen Anlauf. Dieses Jahr soll ein Forschungsprojekt starten mit dem Ziel, jene Flächen auszuscheiden,
aus denen am meisten Phosphor in den See gelangt. Die Phosphorkonzentrationen im See seien zwar unter einen bestimmten Zielwert
gesunken, sagt Werner Goggel von der Dienststelle Umwelt und Energie des Kantons. "Doch die Einträge vor allem aus der Landwirtschaft
sind immer noch doppelt so hoch wie für den See verträglich." Gegenwärtig sind es 4,5 Tonnen pro Jahr - der See "verdaue" aber nur
2,2 Tonnen. Mit der Seebelüftung werde der Baldeggersee bloß im Gleichgewicht gehalten; um ihn gesunden zu lassen, müsse der
Phosphoreintrag mindestens halbiert werden.
Man konnte mit dem Güllen auch ganz aufhören. Forscherinnen der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung
und Gewässerschutz haben ausgerechnet, dass in einigen Böden so viel Phosphor eingelagert ist, dass die Nutzpflanzen dreißig
oder mehr Jahre davon zehren könnten - ohne einen einzigen Tropfen zusätzliche Gülle.
ROBERT MÜLLER
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