Bettina Scharrer

"Dem Sempachersee kommt die Gülle hoch"

Das Spannungsfeld zwischen intensiver Tierhaltung und Gewässerschutz im Kanton Luzern 1976-2003)

Berner Forschungen zur Neuesten
Allgemeinen und Schweizer Geschichte Band 12

Rezension


Keine wirklichen Alternativen aufgezeigt

SEMPACHERSEE BESPRECHUNG DER LIZENTIATSARBEIT "DEM SEMPACHERSEE KOMMT DIE GÜLLE HOCH" VON BETTINA SCHARRER

Das Gewässer schützen oder die Schweinehalter verschonen? Um diese Frage kreist eine Arbeit, die sich um Gegner und Befürworter drehte. Der Sempachersee erregte die Gemüter.
Bettina Scharrer zieht in ihrer Lizentiatsarbeit ein ernüchterndes Fazit: "Es gelang bisher nicht, die widerstreitenden Ansprüche nach mehr Produktivität und gleichzeitig mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft in eine Zielharmonie zu führen." In ihrem gut 180-seitigen Werk zeigt die Historikerin auf, dass zwischen 1976 und 2003 eine Spannung zwischen intensiver Tierhaltung und Gewässerschutz herrschte. Ihr Titel "Dem Sempachersee kommt die Gülle hoch" stammt aus dem "Beobachter" von 1987.

Landwirtschaft ist heilige Kuh Nach einer Einführung schreibt Bettina Scharrer, dass das Thema im Seesterben vom 7. und 8. August 1984 kulminiert. Dieses führte zu einer massiven Beschleunigung des bereits laufenden Prozesses, da der Große Rat (heute Kantonsrat) des Kantons Luzern schon 1979 über den Sempachersee sprach. Ein Vertreter fragte damals: "Ist der Regierungsrat bereit, sich für eine Landwirtschaft einzusetzen, welche die natürlichen Zusammenhänge und Kreisläufe respektiert?" Die Autorin meint dazu: "Diese Frage kann rückblickend nicht vorbehaltlos mit Ja beantwortet werden." Ein liberaler Großrat warnte bereits 1978: "Sollte eine lnterpellation zur Sanierung landwirtschaftlicher Produktionsmethoden gemacht werden? Ich bin mir im Klaren, wer es macht, kommt etwas unter Beschuss denn Chemie und Landwirtschaft sind heilige Kühe bei uns."

"Vernünftige Vorschriften" Die große Mehrheit des 170-köpfigen Großen Rats bestand aus CVP- und LPL-Vertretern. Und diese sprachen sich gegen Düngerverbote aus und plädierten für "vernünftige Düngervorschriften" und "angemessene Nutzungseinschränkungen", wie Bettina Scharrer aus den Protokollen zitiert. Der damalige Direktor der Landwirtschafts- und Maschinenschule Hohenrain meinte Mitte der 1980er-Jahre aber: "Nach meiner Auffassung müssen wir heute zwischen zwei Übeln das kleinere auswählen. Und dieses ist für mich die Reduktion der Tierbestände." Die Landwirte und ihre Vertreter in der Politik und in Verbänden wehrten sich dagegen. Sie befürchteten massiv schlechtere Bedingungen für ihre Betriebe. Bettina Scharrer zeigt in ihrem Buch ein gewisses Verständnis für diese ausdauernde Opposition gegen den Abbau des Schweinebestandes: "Den einzelnen betroffenen Landwirtschaftsbetrieben wurden seitens der nationalem Agrarpolitik keine wirklichen Alternativen im Sinne einer materiell lohnenden Ökologisierung zu den bisherigen, auf Intensivierung, Produktionssteigerung und die Rationalisierung ausgerichteten Produktionsmethoden, angeboten."

Um 358 Prozent angestiegen Doch die Berner Historikerin rechnet auch vor, dass der Schweinebestand zwischen 1956 und 1983 in der Gegend um den Sempachersee um 358 Prozent angestiegen ist. "Die stetige Zunahme der Schweinebestande machte letztlich die Bemühungen um einen Phosphorabbau teils wieder zunichte", schlussfolgert sie unter anderem in ihrer Arbeit.

Landwirte als Verlierer? Neben dem großen Fischsterben im Sempachersee hatten das Waldsterben sowie die Katastrophen von Schweizerhalle und Tschernobyl zu einer Sensibilisierung geführt. Trotzdem: "Einschneidende Maßnahmen verstärkten den Widerstand seitens der Landwirtschaft, welche sich als Verlierer sah und Entschädigungen forderte", betonte Bettina Scharrer. Voran schritt der Surseer Stadtrat. Am 28. November 1984 verlautbarte er: "Wir finden es unsinnig, jahrelang die Kosten einer Symptombehandlung zu tragen und die Ursachenbekämpfung zu unterlassen. Unsinnig ist es, das einerseits die Überschussproduktion der Landwirtschaft aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, und andererseits die Umweltfolgen aus dieser lntensivlandwirtschaft und aus dieser Überproduktion wiederum aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden müssen." Er verhängte auf seinem Gemeindegebiet kurzerhand ein Düngerverbot, das umgehend bekämpft wurde. Schließlich einigte man sich auf die Lösung, die Überproduktion durch entsprechende Entschädigung der Ertragsminderung abzubauen. Es war ein Ringen um den Kompromiss, wie die Arbeit zeigt. Bettina Scharrer bedauert "Die Chance, frühzeitig eine Querverbindung zu gewässerschutzrelevanten Überlegungen herzustellen, in dem das Verhältnis zwischen vorhandener Nutzfläche und Tierbestandesgröße als Richtlinie berücksichtigt worden wäre, wurde nicht wahrgenommen."

Grosse Wertschöpfung Die umfassend recherchierte Lizentiatsarbeit zeigt, wie die Gesellschaft damals mit diesem Problem umging, nach Ursachen forschte und verschiedene Handlungsstrategien entwickelte. Ein lnteressenskonflikt war vorprogrammiert. Das sich die kantonale Verwaltung, Politik und Landwirte für den Erhalt des vorhandenen Produktionspotenzials im Status quo einsetzten, begründet Bettina Scharrer so: "Dies ist nicht weiter erstaunlich in Anbetracht des großen Wertschöpfungsanteils, mit welchem die Schweinehaltung direkt oder indirekt über die vor- und nachgelagerten Industrien zur Luzerner Volkswirtschaft beitrug." Es ging nach ihr also mehr um Geld als um Gülle.

THOMAS STILLHART


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