Der von Paulo F. Alberto und David Paniagua herausgegebene Band der Reihe "Studia Classica et Mediaevalia" widmet
sich den literarischen Aspekten dieses komplexen Themenkreises in dreizehn einschlägigen und fachlich hochstehenden Beiträgen. Die
polyglotte Sammlung, die sich hinter dem englischsprachigen Titel verbirgt, ist das Resultat einer internationalen Konferenz am Centro
de Estudos Clássicos an der Universität Lissabon im Oktober 2011. Deren Teilnehmer, die mehrheitlich aus Spanien und Italien stammen,
referierten über aktuelle Forschungsvorhaben - eine Ausgangslage, die die inhaltliche Breite des Buches erklärt, dessen Beiträge nicht
durch ein übergeordnetes Tagungsthema zusammengehalten werden. Im Zentrum stehen Probleme der Überlieferungsgeschichte und der Textkritik
sowie literaturwissenschaftliche und kulturhistorische Fragestellungen aus dem Umfeld des spätantiken und frühmittelalterlichen Schulwesens. Massimo Gioseffi untersucht das vielfältige Corpus metrischer Paraphrasen von Vergils Aeneis, deren Ursprünge
traditionell im spätantiken Schulbetrieb verortet werden. Sein Beitrag zeugt vom (wieder)erwachten Forschungsinteresse an der Anthologia
Latina und den neuen literaturwissenschaftlichen Zugangsweisen, mit denen man sich Texten dieser Art nähert. Mit dem Postulat eines
eigenständigen literarischen Genres löst Gioseffi die Gedichte aus ihrem vermeintlichen Entstehungskontext und argumentiert mit guten
Gründen für deren eigenständige literarische Wirkungsweise innerhalb der spätantiken Bildungskultur. Im Spannungsfeld zwischen traditionsverhaftetem Rückbezug und literarischer Eigenständigkeit bewegen sich auch
die Beiträge von Marisa Squillante und Luigi Pirovano. Erstere zeigt, wie die Wiedergabe von Tierstimmen, die in der lateinischen
Poesie generell einen beliebten Ansatzpunkt für intertextuelle Verweise darstellten, bei spätantiken Dichtern wie Ausonius oder
Sidonius Apollinaris darüberhinaus auch aus klanglichen Gründen Verwendung fand. Pirovano fragt nach der ursprünglichen Gestalt
des rhetorischen Traktats, das unter dem Namen des Emporius überliefert ist (Halm 561-574), und legt überzeugend dar, wie das Werk
aus zwei heterogenen rhetorischen Quellen kompiliert wurde. In Spätantike und Frühmittelalter, wo die Kompilation, Exzerption oder Interpolation überlieferter Werke zur
gängigen literarischen Praxis zählte, stoßen bei der Rekonstruktion der Überlieferungsgeschichte philologische Methoden schnell
an ihre Grenzen. Besonders schwierig gestalten sich Rückschlüsse auf die Entstehungsbedingungen und die ursprüngliche Textgestalt
bei jenen Werken, die einen praktischen Nutzen in der Schule besaßen und demgemäß einem ständigen Aktualisierungsprozess ausgesetzt
waren. Gleich mehrere Beiträger widmen sich diesem anspruchsvollen Problemkreis in fundierten Analysen. David Paniagua untersucht
die lexikolographische Vorgehensweise des Frontinus-Kommentars des Pseudo-Agennius Urbicus, der im Zuge der zweiten Revision des
Corpus agrimensorum Romanorum in der Mitte des 6. Jh. dieser für den Geometrie-Unterricht wichtigen Textsammlung angefügt
wurde. Lucio Cristante nimmt eine musiktheoretische Passage aus dem sogenannten Fragmentum Censorini, einer enzyklopädischen
Lehrschrift, in den Blick, die er ausführlich kommentiert und in einer neuen Edition vorlegt. Aus der Spätantike ins hochkarolingische St. Gallen führen die Beiträge von Veronika von Büren und Adelaida A.
Sanz. In einer minutiösen Handschriftenkollation kann von Büren den Ursprung der ältesten Textzeugen der Seneca zugesprochenen
Sentenzen-Sammlung, die seit Mitte des 12. Jh. unter dem Titel De moribus zirkulierte, im nördlichen Italien lokalisieren. Sanz skizziert einen neuen Interpretationsansatz für eines der eigentümlichsten literarischen Werke des Frühen
Mittelalters, Ermenrichs Epistula ad Grimaldum, das sie nach Referenzen auf karolingische Schulpraktiken befragt. Der vielfältige Nutzen der Berücksichtigung indirekter Textüberlieferung zeigt sich in den Analysen von Paulo
A. Alberto und Rodrigo Furtado. Alberto zeichnet in einem kritischen Überblick der erhaltenen Textzeugen vom 7. bis ins späte
9. Jh. exemplarisch anhand von Sisebuts astronomischem Lehrgedicht Carmen de luna die bemerkenswerte Karriere westgotischer
Poesie im karolingischen Schulwesen nach. Im Gegensatz zur breiten Rezeption dieses Werks blieb die Verbreitung von Isidors Historiae
im Früh- und Hochmittelalter vornehmlich auf die iberische Halbinsel beschränkt. Furtado liefert einen Beitrag zur Texttradition,
indem er dessen Verwendung in der mozarabischen Literatur beleuchtet und nach den handschriftlichen Vorlagen dieser Sekundärüberlieferung
fragt. Ins frühmittelalterliche Spanien führt auch der Beitrag von Carmen Codoñer, die spanische Glossare als mögliche
Vorlage des karolingischen Liber Glossarum diskutiert. Die Bedeutung der handschriftlichen Parallelüberlieferung betont Michael Reeve, der darlegt, wie die weitgehende
Ausklammerung der Überlieferung der ungekürzten Version von Plinius' Naturalis historia zu Fehlern in der Beurteilung der
handschriftlichen Tradition der mittelalterlichen Exzerpte dieser monumentalen Universalenzyklopädie führte. Etwas aus dem Rahmen des Ganzen fallen die Beiträge von Giovanni Polara und Aires Nascimento, die kulturhistorischen
Fragestellungen nachgehen. Kritik bewegt sich auf hohem Niveau: Abgesehen von der mangelhaften Qualität der enthaltenen Abbildungen und
einzelnen Tippfehlern ist das Buch formal einwandfrei. Konzeptionell zu bedauern ist der Verzicht der Herausgeber auf eine Einleitung,
in der über die im Titel aufgeführten "Ways of approaching knowledge" in theorie- und methodenbezogener Hinsicht hätte reflektiert werden
können. Insgesamt bietet der an ein spezialisiertes Fachpublikum gerichtete Sammelband einen guten Einblick in aktuelle
Ansätze der romanisch-sprachigen Forschung und leistet zugleich einen maßgeblichen Beitrag zur Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte
spätantiker und frühmittelalterlicher Literatur. Raphael Schwitter
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