Detlef Thiel

Maßnahmen des Erscheinens

Friedlaender/Mynona im Gespräch mit Schelling,
Husserl, Benjamin und Derrida

libri nigri 23

Abstract / Rezension


Maßnahmen des Erscheinens - der 23. Band der Reihe "libri nigri - Denken über Grenzen" behandelt keine Philosophie der Erscheinung, wie man sie etwa bei Heinrich Barth findet, sondern verweist auf die Edition der Gesammelten Schriften des im Pariser Exil verschwundenen und "von der Forschung so gut wie vergessenen" (S. 7) Berliner Philosophen Salomo Friedlaender (1871-1946), der unter dem Pseudonym Mynona Grotesken und Satiren schrieb. Bildet dieses Pseudonym die Umkehrung von 'anonym', so kehrt Thiel den Titel der Münchner Ausstellung um, die im Jahr 1993 Friedlaender/Mynona und Verwandten im französischen Exil gewidmet war: Maßnahmen des Verschwindens - ein Euphemismus für die Deportationen. Seit 2005 hat Thiel (zusammen mit Hartmut Geerken) 22 Bände herausgegeben, fast noch einmal so viele sollen folgen. Diese neuen Maßnahmen sollen also das abenteuerliche postume Erscheinen F/M's experimentell umreissen und ihm Nachdruck verleihen.

Ein nahezu Unbekannter im Gespräch mit vier Klassikern? Hilfreich ist zunächst die biobibliographische Skizze unter der F/M's Philosophie charakterisierenden Formel "Indifferentismus polarer Observanz" (S. 9-24). Geboren in einer Familie von Ärzten und Rabbinern in Gollantsch/ Provinz Posen (heute Polen), studiert F/M Medizin in München, dann Philosophie in Berlin und Jena, wo er 1902 von dem Neukantianer Otto Liebmann promoviert wird. Mit dem Neukantianismus jedoch bricht F/M von vornherein, um sich entschieden auf die Seite eines "Altkantianismus" zu stellen, den am strengsten Ernst Marcus, Justizrat in Essen, vertritt. Eine akademische Laufbahn wird er nicht einschlagen: "Geregeltem Broterwerb, bürgerlichen Sicherheiten zieht er existentielle Ungebundenheit vor - zeitlebens bleibt er angewiesen auf Unterstützung durch Verwandte und Freunde [ ... ]." (S. 11) Kant, Schopenhauer und Nietzsche stehen im Zentrum seiner Veröffentlichungen. Als Janus publiziert Mynona seit 1909 in expressionistischen Zeitschriften (bis 1935 rund 230) Grotesken. Sein philosophisches Hauptwerk der Berliner Zeit, Schöpferische Indifferenz (1918), wird er zwanzig Jahre später kantisch-kritisch revidieren: Das magische Ich. Es geht um "die quasi autotheistische Verwandlung des Alltagsindividuums in einen nietzscheanischen Übermenschen, einen metaphysischen Magier" (S. 14), wobei diese Magie freilich rational und nüchtern bleibt und auf die "Selbstbehauptung des Ich in Autonomie und Freiheit" (ebd.) abzielt. Diese Intention Kants bereitet F/ M auch für den Schulgebrauch auf (Kant für Kinder, 1924). Trotz seines großen und prominenten Freundes- und Bekanntenkreises (Martin Buber, George Grosz, Raoul Hausmann, Alfred Kubin u.v.a.) wird es für ihn gegen Ende der 1920er Jahre zunehmend schwieriger, zu publizieren. Im Oktober 1933 flieht er mit Frau und Sohn nach Paris. Geldnot, Hunger, Krankheit, Internierungen von Sohn und Frau - all dem stellt F/ M eine ungeheure schriftliche Produktivität entgegen: ein Dutzend unveröffentlichte Bücher, dazu Essays, Rezensionen, eine Korrespondenz von über 5000 Druckseiten, 170 philosophische Tagebücher. Einen eindrucksvollen Beleg gibt das Selbstzeugnis in einem Brief von 1944: "Ich wünsche mir ein leeres Buch, 100000 Seiten stark. Habe noch Stoff auf 1000 Jahre, bin also noch so jung jung jung, nur eben nicht gerade körperlich." Er äußerte sich noch zur Atombombe, erlebte den ersehnten Untergang des Naziregimes, wurde "auf Armenkosten im jüdischen Teil des Pariser Friedhofs Pantin beerdigt" (S. 22).

Die folgenden vier Kapitel zeigen F/M in höchst unterschiedlichen Gesprächssituationen. Zwar arbeitet auch der frühe Schelling mit den Begriffen Polarität und Indifferenz, doch will F/M diese Denkfigur den "Klauen der Romantiker entreißen" (S. 25). Er hat sich zu Hegel kaum, zu Schelling "nur punktuell geäußert", "polemisch, formelhaft" (S. 53). Ohne auf die Details eingehen zu können, sei die Sorgfalt hervorgehoben, mit der Thiel zunächst begriffsgeschichtlich in die Vorfelder der Polarität einführt, die sich vor allem im naturwissenschaftlichen Kontext finden (S. 29-32).

Dann verfolgt er jene Denkfigur bei Schelling sowie in der romantischen Naturphilosophie bis um 1850 (S. 32-53). Im Vergleich mit F/M's Konzeption werden die unterschiedlichen Subjektbegriffe hervorgehoben: "Die Funktion, die Schelling dem Ungrund zuschreibt, erhält bei F/M das absolute bzw. transzendentale Ich. Diese Instanz soll rein differenzlos sein, aber doch persönlich; sie soll nicht mit dem konkreten, alltäglichen Menschen verwechselt werden. Ihre Namen variieren: Person, Individuum, Ich, schöpferische Indifferenz, Kants homo noumenon ... ‚Es ist kein einzelner Mensch gemeint, auch nicht die aus solchen Einzelheiten bestehende Menschheit, überhaupt nichts Einzelnes, sondern das Ganze, aber nicht objektiv, sondern subjektiv." (S. 60) F/M macht "Ernst mit Kants Rat, zur Orientierung über das Fortschreiten des Menschengeschlechtes den Standpunkt von der Sonne aus' zu nehmen, ‚welches nur die Vernunft thun kann'" (S. 70) Seit 1939 nennt F/M diesen illokalen Standpunkt ‚ICH-Heliozentrum'.

Husserl kannte F/M wohl nicht (S. 71), doch scheinen "bestimmte Gesten beider Philosophen weitgehend parallel [zu] laufen" (ebd.). Die phänomenologische Reduktion ähnelt F/ M's Indifferenzierung; aber gegen Husserls Modell von Ichpol und Gegenstandspol würde F/M einwenden: Das Ich ist kein Pol, sondern Polarisator der Gegenstände. Ausführlich dokumentiert Thiel die Lesespuren, die von F/M's lebhafter Auseinandersetzung mit dem Erstdruck der Krisis-Schrift (1936) zeugen. F/ M weist jede Historisierung Kants zurück, stimmt aber zu, wenn Husserl betont, dass Descartes im Kontrast zu seinem neuartigen im Subjektiven wurzelnden Philosophieren, noch im Objektiven verharre, wenn er sich nicht klar mache, "daß sein durch die Epoché entweltlichtes Ich [ ... ] unmöglich in der Welt als Thema auftreten kann, da alles Weltliche eben aus diesen Funktionen seinen Sinn schöpft" (S. 91).

Walter Benjamin, der persönlich mit F/M bekannt war, hat seit 1915 öfter lobend auf dessen Grotesken hingewiesen, auf die Schöpferische Indifferenz und auf weitere Aufsätze, besonders zu Goethes Farbenlehre. Indem Thiel sämtliche Materialien in chronologischer Folge zusammenträgt, wird die Intensität und Bandbreite von Benjamins origineller F/M-Rezeption deutlich. 1918 etwa teilt er seinem Schulfreund Ernst Schoen "eine Trouvaille" mit: "S. Friedlaender nennt Elisabeth Förster-Nietzsche die, stadtbekannte Schwester des weltbekannten Bruders'." (S. 114) In eigenen Abschnitten lotet Thiel die "Logik der Extreme" tiefer aus: Benjamins von F/M's Bloch-Kritik inspirierte Politische Theorie, die Diskussionen mit Erich Unger und Oskar Goldberg sowie die enttäuschende, weil hämische Verzerrung F/M's durch Adorno.

"Wie konstruiert man einen Autor?" Diese Frage beantwortet Thiel im letzten Kapitel (S. 163-226), indem er seinen noch nicht festgestellten mit einem etablierten Autor - Derrida - dermaßen dicht verwebt, dass immer "neue Parallelen", "Analogien, Spiegelungen, Vorweg- und Wiederaufnahmen" sichtbar werden. Trotz ihrer "grundverschiedenen Biographien", und obwohl oder gerade weil beide Philosophen einander überhaupt nicht kannten ("Derrida with/out Friedlaender/Mynona"), kann Thiel sogar behaupten: "Fast der ganze Derrida steht bereits bei F/M!" Dazu wird ein wahres Feuerwerk entfacht, in nicht weniger als 33 Skizzen, vom "Schreibe-Thier" über "Atomystik", "Heideguerre", "Der letzte Mensch" bis zu "Gespenster", "Automobil" und "Versprechen", wobei jeweils zuerst Derrida, danach F/M zu Wort kommt. Besondere Aufmerksamkeit verdient die in Skizze 7 diskutierte, auf den ersten Blick verwirrende Gleichung: " diffrance = Schöpferische Indifferenz". Das eigentliche Erlebnis dieses Kapitels besteht darin, einem unermüdlich tiefschürfenden und vor Ideen sprühenden ‚Komparatisten' oder ‚Stereographen' beim Konstruieren seines Autors über die Schulter zu sehen.

Kirsten Zeyer, Oldenburg


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