Heinz-Peter Mielke

Kirche im Geheimen

Orthodoxes und liberales Schwenkfeldertum
in Süddeutschland und seine Auswirkung auf
Geistesgeschichte und politisches Handeln
in der Spätrenaissance

Rezension


Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Schwenckfeldertum, die sich in zahlreichen Publikationen niederschlug, legt Heinz-Peter Mielke nun eine zusammenfassende Darstellung über das Schwenckfeldertum im Süddeutschland vor. Sie ist jedoch keineswegs lediglich ein geschichtlicher Überblick über das süddeutsche Schwenckfeldertum, sondern sie vermittelt Kenntnisse und Einsichten in seine theologische Komplexität und seine Auswirkungen auf die Kultur- und Geistesgeschichte sowie auf das politische Handeln bis zum "Vorabend" des 3ojährigen Krieges.

Nach einer Einleitung (S. 3-9) und einem (zu) knappen Bericht über den Forschungsstand (S. 9-13) wird in einem umfangreichen Kapitel (S. 1-159) die Geschichte des süddeutschen Schwenckfeldertums bis zum Tode Caspar Schwenckfelds von Ossig 1561 dargestellt. Dieser Adlige, der im Herzogtum Liegnitz seit 1519 als Hofrat in Diensten des Piastenherzogs Friedrich II. von Liegnitz gestanden war und seit 1521/22 eine stark vom Spiritualismus bestimmte Anhängerschaft um sich gesammelt hatte, war Anfang 1529 freiwillig ins Exil gegangen. Sein neuer Lebens- und Wirkungsraum wurde bis zu seinem Tod der Südwesten des Reiches. Mielke folgt in seiner Darstellung zunächst der Zeitleiste: Anhand von Schwenckfelds Aufenthalten in Straßburg (1529 - 1533), in Augsburg und Ulm sowie in Oberschwaben (1533 - 1535/39) wird dessen rasch anwachsende Anhängerschaft geschildert. Sodann wählt Mielke aber das territoriale Ordnungsprinzip, d.h. das süddeutsche Schwenckfeldertum wird nun nacheinander behandelt in Württemberg und den "eingeschlossenen und angrenzenden selbständigen Territorien mit der Reichsstadt Esslingen", im oberrheinischen Gebiet, in den oberschwäbischen Reichsstädten, im Herzogtum Pfalz-Neuburg, in den fränkischen Territorien.

In einem weiteren größeren Kapitel (S. 161 - 337) wird zunächst aufgezeigt, dass mit dem Tod Schwenckfelds die große Integrationsfigur des süddeutschen Schwenckfeldertums wegfiel. Es gab keinen, der in seine Fußtapfen hätte treten können. Unter territorialgeschichtlichem Zugriff wird sodann auf die Situation des Schwenckfeldertums in den süddeutschen Reichs- und Landesstädten" (S. 172 - 196) sowie in den Landgemein den" (5. 196-210) bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingegangen. Dass bei einem derart weitgesteckten Rahmen vieles nur gestreift werden kann, ist verständlich. Schließlich wendet sich Mielke Einzelgestalten zu, die in dieser Zeit das süddeutsche Schwenckfeldertum geprägt haben. U.a werden vorgestellt: der Speyerer Bischof Marquard von Hattstein, der Kaiserliche Rat Lazarus von Schwendi, der Mediziner Samuel Eisenmenger-Siderocrates, der elsässische Arzt Helisäus Rösler, der Liederdichter Adam Reisner.

Ein weiteres großes Kapitel (5. 361 - 428) ist dem Schwenckfeldertum und dem Reichsadel gewidmet. Kenntnisreich und mit großem genealogischem Spürsinn werden mehrere Angehörige des Reichsadels und des Beamtenadels präsentiert, die sich entweder als Anhänger Schwenckfelds oder als dessen Sympathisanten verstanden. Nicht zuletzt sei noch auf das Kapitel verwiesen, das sich mit der Interdependenz zwischen Schwenckfeldertum und "neugeistige(r) Strömungen" befasst. (S. 429 - 500). Erörtert werden die vielfältigen Verbindungen der süddeutschen Schwenckfelder zu Rosenkreuzern, Alchimisten, Paracelsisten und Pietisten. Die Ausführungen über letztere sind allerdings nicht unproblematisch und zum Teil auch unzutreffend. Das letzte kleine Kapitel (,‚Das Schwenkfeldertum in Wechselwirkung mit christlicher Kunst", S. 501 - 510) erweckt Erwartungen, die jedoch keineswegs erfüllt werden. Hier wird nämlich eigentlich nur auf die Epitaphien der beiden Schwenckfeldanhänger Hans Friedrich und Hans Konrad Thumb im württembergischen Köngen sowie auf das bekannte Schwenckfeld-Gemälde und den Holzschnitt bzw. dessen Derivate eingegangen.

Die Darstellung, die zweifelsohne viele neue historische, theologie- und kulturgeschichtliche Details über das Schwenckfeldertum im süddeutschen Raum bietet, lässt erstens deutlich werden, dass es in der Frühphase nahezu völlig auf Schwenckfeld fokussiert war. Er war die große Integrations- und Kommunikationsfigur. Durch seine Aura, seine Frömmigkeit und Gelehrsamkeit, seine unzähligen Besuchsreisen und seine weite Korrespondenz hat er seine Anhänger und Sympathisanten zusammengehalten und untereinander verbunden. Als er am 10. Dezember 1561 in Ulm im Haus seiner Anhängerin Agatha Streicher, einer renommierten Ärztin, verstarb, "fand sich in den sechziger Jahren", wie Mielke mit Recht konstatiert, in den Reihen seiner Anhänger "keine Persönlichkeit", die "die Gemeinschaft zusammenhalten und führen konnte" (5. 210). Vereinzelte Freunde Schwenckfelds besaßen zwar im damaligen Schwenckfeldertum eine gewisse Reputation, wie beispielsweise Georg Ludwig von Freyberg, Jakob Held von Tiefenau oder der Pfarrer Johann Martin, aber keiner von ihnen konnte in die Bresche springen. Schwenckfeld selbst hatte die Hoffnung gehegt, dass nach seinem Tod seine zahlreichen Schriften und Sendbriefe diese Kommunikationsfunktion übernehmen werden. In der Tat ist dies auch in gewissen Maß der Fall gewesen. Obgleich Mielke in seiner Untersuchung mehrfach auf das schwenckfeldische Schrifttum, seine Verbreitung und Bedeutung hinweist, hätte das in einem eigenen größeren Kapitel in extenso - unter Auswertung des "Verzeichnisses der 1620 in Tübingen beschlagnahmten schwenckfeldischen Druckwerke" und der "Kundenliste" des Tübinger Druckers und Verlegers Eberhard Wild (Bd. II, S. 455 - 488) - geschehen sollen. Immerhin ist es unzweifelhaft vor allem dem schwenckfeldischen Schrifttum zu verdanken, dass das Schwenckfeldertum in Süddeutschland noch etwa bis zum "Vorabend" des 3ojährigen Krieges eine nicht unerhebliche religiöse und geistige Unterströmung gebildet hat.

Zweitens wird durch die vorliegende Untersuchung deutlich, dass das Schwenckfeldertum in Süddeutschland ein loses Netz von "Hauskreisen" und von kleinen konventikelartigen Gemeinschaften bildete, das zunächst von Schwenckfeld und nach seinem Tod dann mehr oder weniger durch seine Schriften zusammengehalten wurde. Während diese kleinen Gemeinschaften - so wird überzeugend nachgewiesen - bis zum Tode Schwenckfelds theologisch relativ homogen waren, traten in den folgenden Jahren erhebliche Divergenzen hervor. Es gab Kreise, die stärker am spiritualistischen Erbe Schwenckfelds festhielten, während andere sich stark paracelsischem, alchimistischem und esoterischem Gedankengut öffneten oder sich dein Späthumanismus anschlossen. Soziologisch rekrutierte sich das süddeutsche Schwenckfeldertum - von Ausnahmen abgesehen - aus Mitgliedern der oberen Gesellschaftsschichten. Überproportional groß war der Anteil von Angehörigen aus dem Reichsadel und auch aus dem Landadel, wie in der Untersuchung kenntnisreich aufgezeigt wird. Ferner begegnen Mitglieder aus der Beamtenschaft und den Magistraten, unter den Ärzten und Gelehrten, und nicht zuletzt auch unter den Theologen, obgleich diese ihre Sympathien gemeinhin nur insgeheim geäußert haben.

Drittens wird in Mielkes Darstellung die Interdependenz zwischen dem süddeutschen Schwenckfeldertum und den "neugeistigen" Strömungen im ausgehenden 16. und 17. Jahrhundert evident (S. 429 - 500). Sehr aufschlussreich sind die Ausführungen über die Verbindungen der Schwenckfelder zu Vertreter der "latrowissenschaften" (S. 479 - 500) also zu Paracelsisten, zu Alchimisten und Rosenkreuzern.

Beigegeben ist diesem umfangreichen Band "Abhandlung und Studie" ein nicht minder voluminöser Textband (Quellenedition und Dokumente). Er enthält zahlreiche Dokumente aus Archiven und Bibliotheken, die ausnahmslos in einem biographischen, territorialen und vor allem thematischen Bezug zur Darstellung des süddeutschen Schwenckfeldertums stehen und auf die wiederholt verwiesen wird. Von diesen Dokumenten liegen bislang nur sieben im Druck vor; die übrigen sind handschriftliche Archivalien unterschiedlicher Provenienz. Bei den bereits gedruckten Dokumenten handelt es sich um fünf Gedichte sowie um ein Vorwort und einen Brief in lateinischer Sprache; diese sind hier erstmals in deutscher Übersetzung publiziert.

Die Edition der gedruckten und ungedruckten Texte erfolgt (leider) nicht - wie gemeinhin üblich - in Anlehnung an die "Richtlinien für die äußere Textgestaltung bei Herausgabe von Quellen zur neueren deutschen Geschichte". Vielmehr geschieht die Edition der Texte nach eigenen Grundsätzen, über die Mielke kurz Rechenschaft gibt (vgl. bes. S. 4f). Vorangestellt ist den Dokumenten jeweils eine Einleitung. Personen- und Ortsnamen sind zwar zumeist identifiziert, aber nicht immer hinlänglich genug. Zu bedauern ist, dass zahlreiche Zitate (bes. aus der Bibel, den Kirchenvätern und aus den Reformationsschriften sowie aus der römischen und griechischen Literatur) nicht verifiziert sind; das gilt auch hinsichtlich der vielen übernommenen Fremdzitate. Die Wort- und Sacherklärungen sind zumeist sehr knapp gehalten.

Trotz dieser ‚Auslassungen' ist dieser Dokumentenband zum süddeutschen Schwenckfeldertum dankbar zu begrüßen. Denn die bislang in Bibliotheken und Archiven weit verstreuten und teilweise schwer lesbaren Texte (das gilt besonders für die äußerst wichtige Korrespondenz von Johann Martin, S. 3 - 304) ermöglichen nun eine intensive Weiterarbeit.

Bei einer so umfangreichen, territorial und zeitlich weit ausgreifenden Arbeit ergeben sich auch Desiderata. Gern hätte man noch mehr Details über die konventikelartigen Kreise des süddeutschen Schwenckfeldertums erfahren. Wie war der Verlauf solcher Zusammenkünfte? Welche Stellung nahmen Gebet, Schriftlesung und deren Auslegung sowie die Lektüre von Erbauungsschriften ein? Über das reiche süddeutsche Liedgut der Schwenckfelder erfährt man übrigens in der Arbeit viel zu wenig. Welche Funktion hatten in diesen Zusammenkünften die Frauen, deren Anteil innerhalb der "Gefolgschaft" Schwenckfelds bekanntlich "überproportional hoch" war (S. 443)? Sodann hätte man gern noch mehr Details über die Situation unmittelbar nach Schwenckfelds Tod gewusst. Der Verfasser spricht von einer "Agonie" seiner "Gemeinde"(S. 162). Vielleicht hätte in dem Zusammenhang der Bedeutung der alsbald in Angriff genommenen bzw. vorangetriebenen Drucklegung der Werke Schwenckfelds noch ausführlicher und eindringender nachgegangen werden sollen. Die "Zusammenfassung und Würdigung" (S. 511 - 516) ist sehr knapp. Eine Bilanzierung der wichtigsten Untersuchungsergebnisse - eventuell verbunden mit Impulsen für die weitere Forschung auf dem Gebiet des Schwenckfeldertums - wäre hilfreich gewesen…

Diese kritischen Anmerkungen sollen den Wert der umfangreichen Untersuchung über das süddeutsche Schwenckfeldertum keinesfalls schmälern. Eröffnen die "Abhandlung und Studie" - zusammen mit dem Textband - doch neue Kenntnisse und Einsichten über seine bewegte Geschichte, seine durchaus nicht homogene Frömmigkeitstheologie und seine Verflochtenheit mit den "neugeistigen Strömungen" im ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert. [1855]

Horst Weigelt


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