Heinz-Peter Mielke

Kirche im Geheimen

Orthodoxes und liberales Schwenkfeldertum
in Süddeutschland und seine Auswirkung auf
Geistesgeschichte und politisches Handeln
in der Spätrenaissance

Rezension


Das hier anzuzeigende voluminöse Werk behandelt "die Geschichte der religiösen Bewegung der Schwenkfelder mit ihrem Schwerpunkt in Schwaben", und diese ist "eingebettet [...] in das politische Geschehen der Zeit und in die Geistesgeschichte jenseits von Protestantismus und Katholizismus". Mit diesem im Vorwort formulierten Anspruch sind die Komplexität des Themas ebenso angedeutet, wie die immensen Quellenmengen, die zu verarbeiten und in eine nachvollziehbare Ordnung zu bringen waren.

Der Verfasser führt den Leser nach einer kritischen Würdigung des Forschungsstandes in einem ersten Schwerpunktkapitel in die Welt der nach dem schlesischen Kaspar Schwenkfeld von Ossig (t 1561) benannten reformatorischen Bewegung im Südwesten des Reiches mit besonderer Konzentration u. a. in Straßburg, Augsburg, Ulm, Oberschwaben, Esslingen, Worms, Speyer und Frankfurt, und zwar bis zum Tode des Reformators. Nach dem Verlassen seiner schlesischen Heimat hatte sich Schwenkfeld zuerst der Bischofsstadt Straßburg zugewandt, wo die "Reformationsbewegung noch voll im Flusse" war, denn "nur in einem noch nicht erstarrten theologischen Gefüge" konnte Schwenkfeld mit seinen theologischen Ansichten reüssieren. Man sieht ihn hier wie auch anderswo im Umfeld und in der Auseinandersetzung mit jenen vielen Köpfen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die in starre reformationsgeschichtliche Kategorisierungen nicht passen, die nicht zwinglisch, nicht lutherisch und nicht papistisch, sondern zum Beispiel täuferisch, spiritualistisch oder sakramentiererisch (und gleichsam von allem etwas) ausgerichtet waren.

Sein tiefer Forschungsvorstoß in biographische und lokale Details ermöglicht es Mielke, Schwenkfelds Wirken dem Inhalt, dem Erfolg und auch den Misserfolgen nach zu verfolgen und nachzuzeichnen, was aber ein Referat im Rahmen einer Besprechung schier unmöglich macht. Man begegnet suchenden Menschen des Zeitalters, von namhaften und geschichtswirksamen hohen Würdenträgern bis zu Persönlichkeiten, deren Bedeutung lokale Grenzen nicht überschritt, die das reformatorische Kolorit aber nicht weniger anreicherten, und allesamt mehr oder weniger intensiv mit Schwenkfeld und seinen Lehren und Ansichten in geistigem und theologischem Austausch standen. Insgesamt ist Mielke überzeugt, dass Schwenkfelds Einfluss in den behandelten Städten und Territorien signifikant größer gewesen ist, als im bisherigen reformationsgeschichtlichen Wissen verankert.

Zu den grundlegenden Vorteilen von Mielkes Werk gehört die gründliche Kenntnis der vielen Streitschriften und Postillen Schwenkfelds, seine Umfeldes und seiner Widersacher, und der sich in ihnen widerspiegelnden Verästelungen der einzelnen theologischen Richtungen. Und dass die Feder Schwenkfelds wesentlichstes Werkzeug war, wusste schon Martin Luther, der ihn polemisch den "hunderthändigen Stenkfeld" nannte.

Mit der "Situation nach dem Tode Kaspar Schwenkfelds" befasst sich das zweite Hauptkapitel, in dem der Verfasser der Ausbreitung seiner Lehrmeinungen aber auch ihrer Bekämpfung mit Blick neben anderem auf die süddeutschen Reichs- und Landstädte bis hin zum Reichskammergericht nachgeht. Dabei waren das Fortbestehen seiner Lehren und die begonnenen Gemeindebildungen nach Schwenkfelds Tod aber mitnichten gesichert gewesen.

Eine Definition oder auch nur eine prägnante Umschreibung dessen, was Schwenkfelds Theologie auszeichnet, ist nicht leicht, ein Alleinstellungsmerkmal kaum mit einem Wort zu benennen. Schwenkfeld sah sich einerseits als Teil der Catholica Ecclesia, forderte aber zum Verzicht auf die Sakramente auf, was Mielke als "Separatismus" wertet, "der bei ihm zu einer individuellen Mystik " überleitete. Schwenkfeld verstand seine Lehrmeinungen "als dritten Weg zwischen den Religionsblöcken" (Bd. 1, 165).

Erstmals war Mielke in seiner 1977 erschienenen Dissertation über die "Niederadligen von Hattstein", aus deren Familie der Speyerer Bischof Marquard (t 1581) stammte, der Nachweis gelungen, dass dieser nach dem Tod Schwenkfelds dessen in der Zerstreuung lebende Gemeinschaft anführte, so sehr er auch nach außen katholisch agierte. Auch am Reichskammergericht in Speyer gab es etliche von schwenkfeldischen Ideen geleitete Männer. Dieses Kapitel schließt mit der Darstellung der Schwenkfelder am Bodensee und in der Schweiz und mit einem Exkurs über ihren Einfluss am Niederrhein und in den Niederlanden.

Der künftigen reformationsgeschichtlich-personenbezogenen Forschung des oberdeutschen Raumes sehr zugute kommen wird das Kapitel über das Schwenkfeldertum und den Reichsadel. Für viele Städte und Territorien Südwestdeutschlands, für viele Biographien von Adeligen, Amtsträgern, Gelehrten und Geistlichen dieses Raumes bietet Mielkes Werk teils grundlegend neues, teils anreicherndes und weiterführendes Quellenmaterial und durchweg entscheidende Hinweise zu ihrer reformationsgeschichtlichen Einordnung. Letzteres gilt partiell auch schon für das vorausgehende Kapitel über "Das Schwenkfeldertum zwischen Orthodoxie und Liberalität".

Dabei überzeugt nicht nur die immer wieder deutlich werdende erschöpfende Recherche des Verfassers selbst in entlegenen Archiven von Städten und Adelsfamilien, sondern auch die sehr instruktive Beigabe von Abbildungen der behandelten Personen und Schriften (eine großartige bibliographische Leistung!). Dass die Vielzahl der Namen und die Heterogenität der von Mielke reformationsgeschichtlich erforschten Persönlichkeiten eine stringentere Linienführung in der Darstellung erschwert, sei ausdrücklich anerkannt. Jedenfalls sind die mit ausgeprägtem genealogischem Gespür angestellten profunden Einzelforschungen, die vor allem auf über 60 Seiten zahlreichen Geschlechtern des oberdeutschen Reichsadels gewidmet werden, ein hervorhebenswerter Verdienst von Mielkes Werk. Insbesondere hier erweist sich seine enorme Quellen- und Literaturkenntnis. Ohne den übergeordneten Zusammenhang aus dem Auge zu verlieren, gelingt es Mielke, bis in verborgene örtliche und familiäre Facetten vorzudringen und Querverbindungen nachzuweisen. Der große Zugewinn an genealogischer Kenntnis zu etlichen Adels- und Bürgergeschlechtern schlägt sich übrigens auch in vielen eigens erarbeiteten Stammtafeln nieder.

Von den weiteren Kapiteln sei noch auf jenes hingewiesen, das sich mit Schwenkfelds "Toleranzgedanke" und seinem "mystischen Weg" befasst und das ins frühe 17. Jahrhundert führt. Dabei mag die Affinität zum und die Übereinstimmung mit Wesensmerkmalen des Pietismus besonders hervorgehoben werden: "Bedenkt man die Inhalte des Pietismus in seiner Bandbreite mit Erfahrung, Verifizierung und persönlicher Aneignung des Glaubens, mit Offenbarungsinhalten in einfacher und verständlicher Struktur, in der das Christsein als von Gott gewollt und als persönliche Existenzwende in Abkehr von Sünde, als Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung empfunden wird, welches mit einer strengen Ethik einhergeht, die Kirche als praktizierte Gemeinschaft mit missionarischer Gottesarbeit und caritativem Einsatz und alles in Hinblick auf eine Verbesserung der Weltverhältnisse und zugleich dies in Abgrenzung zur Amtskirche sieht, so kann man diese Eigenschaften sehr wohl im Schwenkfeldertum erblicken" (Bd. 1, 451).

Konturenschärfe im Sinne einer auf Anhieb nachvollziehbaren Abgrenzung von an deren Theologen und Theologien ist es nicht, was Kaspar Schwenkfeld und seine Lehren ausmacht. Und so reichen denn auch die zahlreichen Adeligen, B ürger und auch die Gelehrten naturwissenschaftlicher Disziplinen, die sich von dem schlesischen Reformator angesprochen wussten, "von fest im Schwenkfeldertum verankerten bis zu Sympathisanten". Vor diesem Hintergrund überzeugt Mielkes einleitender Satz im Schlusskapitel "Zusammenfassung und Würdigung" (Bd. 1, 511): "Kaspar Schwenkfeld hat die südwestdeutsche Reformationsgeschichte zwar nicht durcheinandergewirbelt, ohne ihn wäre sie aber geradliniger verlaufen".

Angesichts des immensen Namenmaterials der Arbeit ist ein "Orts- und Personenregister" ebenso unverzichtbar, wie man es dankbar begrüßen darf.

Mielkes Arbeit war als Habilitationsschrift an der Universität Essen angelegt. Mit dem Tode des sie betreuenden Ordinarius endete aber leider das entsprechende akademische Verfahren. Umso mehr ist es lobenswert, dass dieses Ergebnis vieljährigen Forschens dennoch vorgelegt wurde.

Freilich gibt es auch kritische Anmerkungen zu Mielkes Arbeit. Als Begriffspaare nicht überzeugend erscheinen dem Rezensenten die Untertitel der beiden Bände Abhandlung und Studie und Quellenedition und Dokumente. Mindestens als recht gewagt muss man Mielkes Annahme verstehen, "das westliche Süddeutschland" wäre ein "guter Nährboden für religiöse Ideen", was dann in einer Fußnote mit dem Hinweis unterfangen wird "Noch heute gelten die Schwaben als eigenbrödlerisch" (Bd. 1, 12). Unbefriedigend ist bisweilen die Qualität der Wiedergabe der erfreulich reich und noch einmal die enorme Quellenkenntnis unterstreichenden Illustrationen (z.B. Bd. 1, 69, 95, 147, 233). Orthographische und syntaktische Unvollkommenheiten mögen schon angesichts des Umfangs der Arbeit verzeihlich sein, müssen aber oft auch als vermeidbar registriert werden, wobei der einleitende Hinweis "Dieses Buch folgt der alten Rechtschreibung" von der Kritik ausgenommen sei. Im Literaturverzeichnis gehören die "Stammtafeln zur Geschichte der Europäischen Staaten" des Prinzen Isenburg sicher nicht unter "P" sondern unter "I" sortiert (Bd. 1, 528); die von Mielke auf schwenkfeldische Tendenzen untersuchte Stadt Leutkirch erscheint in der Karte "Orte mit Schwenkfeldischen Aktivitäten" (Bd. 1, 14) als "Leutkirchen" - um nur zwei Beispiele zu nennen. Insgesamt sind das aber eher Petitessen angesichts einer an Material so reichen und an Erkenntnisgewinn so überzeugenden Untersuchung, die man sicher als namhaften Forschungsbeitrag zur Reformations- und Geistesgeschichte Oberdeutschlands bezeichnen darf.

Der zweite Band besteht aus beinahe 600 Seiten Quellenedition, eine mehr als willkommene Ergänzung und Untermauerung der Untersuchungen des ersten Bandes. Dabei sind die zugrunde liegenden handschriftlich überlieferten Texte folgenden Archiven und Bibliotheken entlehnt: Augsburg (Staats- und Stadtarchiv), Berlin (Staatsbibliothek), Darmstadt (Staatsarchiv), Halle a.d.S. (Franckesche Stiftungen), Laubach (Gräfl.Solms`sche Bibliothek), Memmingen (Stadtarchiv), Nürnberg (Staatsarchiv), Speyer (Stadtarchiv), Tübingen (Universitäts- und Stadtarchiv) und Wolfenbüttel (Herzog August Bibliothek). Der Quellenband enthält insbesondere wichtige Briefwechsel, theologische Schriften und geistliche Werke aus dem Umfeld des Reformators und seiner geistigen Nachwelt, wobei Briefe aus dem Nachlass von Johann Martin und aus anderer Provenienz (1566-1599) sowie die Schriften des Helisäus Röslin schon wegen ihres Umfangs besonders hervorgehoben seien. Es finden sich aber durchaus auch Quellen, die andeuten, wie sehr manches, was mit dem Schwenkfeldertum ebenfalls verbunden oder verwandt war, jenseits des klassischen theologischen Diskurses angesiedelt war, so das Horoskop auf den Kölner Kurfürsten Gebhard Truchseß von Waldburg oder die Prophezeiung des Weltendes 1583. Manchmal indes entfernt sich das Quellenmaterial inhaltlich doch recht weit vom eigentlichen Sujet der Untersuchung. Auch dieser II. Band ist mit einem Orts- und Personenregister erschlossen.

Leo Peters


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