Heinz-Peter Mielke

Kirche im Geheimen

Orthodoxes und liberales Schwenkfeldertum
in Süddeutschland und seine Auswirkung auf
Geistesgeschichte und politisches Handeln
in der Spätrenaissance

Rezension


In zwei voluminösen Bänden von 635 bzw. 587 Seiten entfaltet der Verfasser sein Forschungsvorhaben, "die Geschichte der religiösen Bewegung der Schwenkfelder mit ihrem Schwerpunkt in Schwaben" (Vorwort) schreiben zu wollen. Sein Interesse gilt dabei weniger der Theologie des schlesischen Adeligen Caspar von Schwenkfeld, der hier in Anlehnung an die angloamerikanische Forschungstradition nicht mit -ck- geschrieben wird, bzw. deren Veränderung(en) im Prozess ihrer Tradierung, sondern dem politischen Wirken der Religionsgemeinschaft, "um Tiefe und Breite ihres Handelns" (S.6) - vornehmlich mit Blick auf jene religiöse Toleranz, die sie selbst praktizierten, aber auch von ihrer zunehmend in konfessionelle Lager "auseinanderdriftenden" Umwelt einforderten. In dieser Perspektive betrachtet, kommen die Schwenkfelder vor allem als Wegbereiter (früh)neuzeitlicher Toleranz in den Blick, als kleine, aber geistesgeschichtlich wirkmächtige Größe in einer Zeit, die sich in der Perspektive des Verfassers vor allem durch zunehmende Konfessionalisierung, konfessionellen Lagerbildung und demzufolge eine abnehmende Bereitschaft, religiöse Minderheiten zu akzeptieren bzw. zumindest zu dulden, auszeichne.

Wer zu der ursprünglich als Habilitationsschrift geplanten Studie greift, deren "Geschäftsgrundlage" (Vorwort) durch den überraschenden Tod des wissenschaftlichen Patrons, des Inhabers des Lehrstuhls für die Landesgeschichte der Rhein-Maas-Region und Direktor des Instituts für niederrheinische Kulturgeschichte und Regionalentwicklung (InKuR) an der Universität Duisburg-Essen, Jörg Engelbrecht, entfiel, erwartet eine Fülle von Information, was die Verbreitung der Schwenkfelder im Südwesten des Alten Reiches im 16. und frühen 17. Jahrhundert anbelangt. Dem akribischen Fleiß des Verfassers dürften, auch ausweislich der besuchten Archive und Bibliotheken, schwerlich nennenswerte Gruppierungen von Schwenkfeldern in dieser politisch stark fragmentierten Region des Reiches entgangen sein, und die besondere Affinität von Schwenkfeldern und (Reichs)Adel (vielfach in persönlichen Beziehungen gründend und daher fragil) wird erwartungsgemäß plastisch sichtbar. Hier liegt die wohl größte Stärke der Arbeit.

Erheblich schwieriger, weil letztendlich hochgradig spekulativ, wird es dort, wo der Autor sein Kernanliegen vom weitreichenden Einfluss der Schwenkfelder auf die Ausformung des Toleranzgedankens empirisch zu erhärten sucht. Dazu nur ein, meiner Auffassung nach plastisches Beispiel: Die "rätselhafte", weil sich einer eindeutigen konfessionellen Verortung entziehende Religiosität Maximilians II. und einen aus dieser Uneindeutigkeit sich speisenden "Kompromißkatholizismus" im geistigen Kosmos der Schwenkfelder zu verorten, dürfte erheblich zu weit gehen. Ein Satz wie: "So kann das späte Phänomen des Kompromißkatholizismus für die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts eigentlich nur in der elitären Selbsteinschätzung des Sektierertums verhaftet sein, so wie es bekanntlich im Schwenkfeldertum war" (S. 234), bedarf einer überzeugenden Begründung. Diese aber vermag der Autor nicht zu liefern. Hierzu genügt es nicht, einige (völlig unterschiedlich interpretierbare)Sentenzen des Kaisers anzuführen, auf seine Bekanntschaft und seine Wertschätzung des Speyrer Bischofs Marquard von Hattstein (1529 - 1581), der wohl allzu eindeutig als Anhänger Schwenkfelds vereinnahmt wird, zu verweisen oder die Anwesenheit der Ulmer Schwenkfelderin (und Heilerin) Agatha Streicher beim sterbenden Kaiser als Indiz dafür zu interpretieren, dass der religionspolitische, zwischen den Konfessionen vermittelnde Kurs Maximilians als Ausfluss jenes "dritten Weges" zu apostrophieren sei, den Caspar von Schwenkfeld propagiert habe. Zwar mochte auch der Autor nicht so weit gehen, "in Maximilian einen hundertprozentigen Schwenkfelder zu sehen". Er geht auch so weit genug. Denn die Fortsetzung des Zitates lautet: "Sein offizielles Bekennen hatte das Reich in die größte Krise gebracht. Dazu schien Maximilian nicht bereit.Wäre sein Leben durch die schwenkfeldische Ärztin gerettet worden, hatte alles anders ausgehen können. Kaspar Schwenkfeld, der sich mit seinem "dritten Weg" als Vermittler zwischen den Konfessionsblöcken angeboten hatte, erlebte unter Maximilian II. posthum seinen größten Erfolg" (S. 245).

Ähnliche Beispiele ließen sich mehren. Geschuldet scheinen sie mir einer methodischen Unzulänglichkeit zu sein, welche die Wirkmächtigkeit von "Ideen" allzu vorschnell und allzu eindimensional im praktischen Handeln oder anderen "Ideen" nachweisen zu können glaubt. Vielleicht wäre ein Weniger ein Mehr gewesen: Denn vieles, was der Autor in Archiven und Bibliotheken gefunden hat, lässt sich durchaus so lesen und verstehen, dass auch Kaspar Schwenkfeld und seine sich in unterschiedliche Gruppierungen formierenden Anhängern einen erheblichen Anteil an jenen konfessionellen Ambiguitäten, "Grenzüberschreitungen" (Trans-, lnterkonfessionalität) und jener binnenkonfessionellen Pluralität hatten, die jüngst in den Fokus der Forschung gerückt sind. Es ist also durchaus möglich, das Buch mit erheblichem Gewinn zu lesen, ohne sich der ein oder anderen Interpretation des Verfassers anzuschließen. Dazu trägt auch der zweite Band des Werkes bei, in dem der Autor schwer zugängliche Quellen ediert und Schriften schwenkfeldischer Autoren (teils in Übersetzung aus dem Lateinischen) zugänglich gemacht hat. Der Griff zum Buch lohnt sich also in jedem Fall.

Norbert Haag


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