In ihrer Zeit zählte Clara Viebig zu den bekanntesten Erfolgsautorinnen deutscher Sprache. Sie schrieb zahlreiche Romane, Novellen und Erzählungen, die ebenso zahlreiche Auflagen erzielten. Und zwar über einen mehrere Jahrzehnte andauernden Zeitraum hinweg, der vom Fin de Siecle bis hinein in die ersten Jahre der Nazi-Diktatur andauerte, die ihrem Erfolg dann aber auch recht schnell ein Ende setzte. Zwar überlebte Viebig den Nationalsozialismus, ihr literarischer Ruhm jedoch nicht. Heute reicht er kaum mehr über die - gemessen an der lesenden Gemeinde - eher kleine Zahl der Germanistinnen hinaus, die sich beruflich mit der Literatur des 20. Jahrhunderts befassen. Und manches ihrer Werke ist nicht mal ihnen bekannt. Die Vergessenheit etwa, der Viebigs 1925 veröffentlichter Roman "Die Passion" anheim gefallen ist, drückt nichts deutlicher aus als seine Absenz in Anja Schonlaus kenntnisreicher Studie über "Syphilis in der Literatur". Denn in kaum einem anderen Roman prägt die Krankheit das Geschick der zentralen Figuren so sehr wie in diesem.
Die Handlung des Romans setzt zu Anfang der 1890er-Jahre damit ein, dass eine wohlbehütete Lehrertochter von einem beim Vater zur Untermiete wohnenden Gymnasiasten geschwängert wird, und endet keine zwanzig Jahre später mit dem Tod des zu Beginn gezeugten Mädchens namens Eva. Von dem verantwortungsscheuen Kindsvater ist nicht viel zu berichten. Zwar hat es der 20-jährige noch immer nicht bis zum Abitur, dafür aber regelmäßig ins Bordell geschafft, wo er sich mit Syphilis infizierte. Er flieht vor seinen Pflichten gegenüber dem Kind nach Berlin. Die werdende Mutter Olga folgt ihm ohne sein Wissen in gutgläubiger Hoffnung. Kaum hat sie ihn jedoch aufgesucht, zieht er um, ohne ihre seine neue Anschrift zu hinterlassen. Damit verschwindet die Figur, die kaum unsympathischer gezeichnet sein könnte, für etliche hundert Seiten aus dem Roman. Später begegnet man ihm eher beiläufig in einer "Anstalt", in der er mit anderen Syphilitikern im Endstadium seinem Ableben entgegendämmert. Auch Lenchens ehedem gewalttätiger Zuhälter fristet dort die letzten Tage seines elenden Daseins.
Von Lenchen selbst ist hingegen mehr zu berichten als von diesen. Sie ist eine der wenigen Figuren, auf welche die Lesenden im Laufe der Lektüre immer wieder treffen. Zuerst als Siebzehnjährige, die von einem älteren Herren, der ihr die Ehe versprach, geschwängert und dann in eine jener Unterkünfte abgeschoben wird, in denen ledige Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unbemerkt von ihrem eigentlichen sozialen Umfeld Kinder gebären konnten. Viebigs Zeitgenossin Gabriele Reuter setzte ihnen 1908 mit dem Roman "Das Tränenhaus" ein Denkmal.
Das ebenfalls schwangere Lenchen teilt ein Zimmer des Etablissements mit Olga. Bald beginnt die junge Prostituierte, Olga zu verehren, die sich trotz ihres unehelichen Kindes, der kleinen und stets kränklichen Eva, nicht nur eine Anstellung in einem Modehaus sucht, sondern sich dort aufgrund ihres Geschicks von der einfachen Schneiderin einige Stufen hochzuarbeiten versteht. Dabei hilft ihr auch der Umstand, dass in Berlin niemand ein uneheliches Kind "als Schande betrachtet". Ganz anders war das noch in ihrem Heimatdorf, in dem Olgas ledige Schwangerschaft als Katastrophe angesehen wurde, die es zu verheimlichen galt. Somit stellt die vermeintliche Heimatdichterin Viebig in diesem Roman dem Stadtleben das Dasein in der Provinz keineswegs idealisierend gegenüber, wie es oft über ihre Werke heißt. Im Gegenteil. Berlin ist zumindest in dieser Hinsicht aufgeklärt und tolerant. Die Provinz hingegen in jeder vermufft und vorurteilsbeladen.
Zwar wird Lenchen später mit ihren gut 30 Jahren ebenso auf die falschen Versprechungen eines sich heiratswillig gebenden Mannes hereinfallen, wie sie es mit ihren siebzehn Jahren bereits einmal tat, und Olga wird den Fehler begehen, den Violinisten Hans Blechhammer zu heiraten, der es einzig auf eine Versorgungsehe abgesehen hat, doch erkennt eine jede der beiden Frauen, wenn die andere eine "Erzdummheit" begeht und wieder einmal einem Mann in die Falle geht. Und etliche Jahre nach Olgas Niederkunft und Lenchens Fehlgeburt wird Eva auf einige Zeit bei der Prostituierten unterkommen. Männer, so hat das Leben sie inzwischen gelehrt, "taugen alle nischt. Gott wär' das schön, wenn man die nicht brauchte", seufzt sie.
Im Zentrum der Handlung stehen aber weder die "gutmütige Dirne" noch - wie man zunächst geneigt ist zu glauben - Olga, sondern Eva, deren über alles geliebte Tochter. "Nichts würde sie von Eva trennen - nur der Tod", weiß Olgas "Mutterliebe". Und genauso kommt es. Für Lesende und Figuren gleichermaßen unerwartet stirbt Olga lange bevor sich der Roman dem Ende entgegen neigt. Dass Eva die Krankheit ihres Vaters geerbt hat, hat sie nie erfahren. Das heißt, sie musste die Augen schon sehr fest vor der Erkenntnis verschließen. Auch Eva selbst erfährt erst sehr spät, warum sie schlecht sieht und hört, kurzatmig ist und überhaupt ständig kränkelt. Schon in der Schule hat sie nicht an einem "Wettlaufen" teilnehmen dürfen, da der Schularzt einen "Herzklappenfehler" diagnostizierte. Auf seine wohlmeinende Frage, was sie denn später einmal werden möchte, antwortete sie überzeugt "Schnelläuferin", was allenthalben lautes Gelächter hervorruft. Selbst die Mutter lacht mit. Nur das Mädchen selbst mag nicht einstimmen.
Es ist Evas Passionsweg, der den Titel des Buches stiftet. Er gleicht in gewisser Weise einer Odyssee. Allerdings dauert er nicht so lange wie die zwanzigjährige Heimkehr des berühmten Mannes aus Ithaka - dazu stirbt sie zu jung. Auch legt sie anders als der heimtückische Überwinder und Brandschatzer Trojas an einigen Häfen mehrfach an. Eine ihrer Stationen ist die wunderbare Villa von Frau Lessel, einer gutaussehenden, reichen Dame, die als Kundin des Modehauses mit Olga sehr zufrieden war. Die vornehme und wohlwollende Frau nimmt sie zu sich. Später führt Evas Weg durch Berlins berühmte Charité, diverse Krankenhäuser und Heime sowie als Angestellte in verschieden Haushalte. Auch hütet sie bei Verwandten ein schwerbehindertes Kleinkind. Allerorten wird sie ausgenutzt und schließlich davongejagt, sobald man von ihrem Leiden erfährt. Nur von Lenchen nicht, die sie trotz ihrer Erkrankung aufnimmt und sogar mit ihr das Bett teilt. Doch diesmal ist es Eva, die flieht. Denn irgendwann versucht Lenchen, ihr einen Freier zuzuführen. Für die Prostituierte handelt es sich dabei keineswegs um ein verwerfliches Unterfangen. Am Ende ihrer leidvollen Reise sieht Eva nur noch einen Ausweg: den Suizid, der manchem Verzweifelten als Weg ins Freie gilt. Der Tod, so die letzten Worte des Buches, "nahm sie sanft in den Arm."
Clara Viebigs Syphilis-Roman ist nicht nur ein zu unrecht weithin vergessenes Stück Literatur aus der Zwischenkriegszeit, sondern auch ein großartiges Plädoyer für Toleranz und Mitgefühl. Und genau darum gilt seine Empathie auch nicht den Männern, nicht dem Bordellgänger und nicht dem Zuhälter, die gemeinsam in der "Anstalt" dahinsiechen, sondern der verzweifelt, letztlich aber erfolglos um einen Platz in der Gesellschaft ringenden Eva, ihrer aufopferungsvollen Mutter Olga und der "warmherzigen" Prostituierten Lenchen.
Rolf Löchel
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