Raimund G. Philipp

China - die zukünftige Weltwirtschafts- und Supermacht?

Mythos und Realität

Abstract / Rezension


Die meisten China-Beobachter und Autoren stellen die Exporterfolge der volksrepublikanischen Wirtschaft heraus und verweisen überdies auf die seit Jahren anhaltend hohen Wachstumsraten von durchschnittlich knapp zehn Prozent. Von diesen wenigen Faktoren leiten diese Experten ihre Behauptung ab, dass die VR China in naher oder fernerer Zukunft die USA als Weltwirtschafts- und Supermacht ablösen wird. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass das "Reich der Mitte" die drei industriellen Revolutionen nicht durchgängig und nicht flächendeckend durchlaufen hat. Aus diesem Grund und wegen besonderer historischer Bedingungen konnte das Land keine kohärente Volkswirtschaft herausbilden und damit auch kein landesweit gültiges durchschnittliches Produktivitätsniveau - im Gegensatz zu den USA. Entscheidend aber ist, dass das moderne warenproduzierende System an seine innere Schranke (Karl Marx) gestoßen zu sein scheint - der Prozess der Verwertung des Werts ist im Niedergang begriffen bzw. wird nur noch durch das Finanzkapital simuliert. Im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise wird die Volksrepublik China die USA weder als Weltwirtschafts- noch als Supermacht ablösen können - und jenseits davon spielen solche Kategorien wohl keine Rolle mehr. Herunter gespielt wird auch, dass das Riesenreich mit einer Bevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen in den einzelnen Sektoren seiner Wirtschaft mit immensen Problemen zu kämpfen hat, die innerhalb des kapitalistischen Systems nicht gelöst werden können. Um obige Thesen zu untermauern, geht der Autor zunächst auf die Entwicklung des modernen warenproduzierenden Systems ein und zeigt an Hand von Max Webers Konfuzianismus-These, warum in Europa und nicht in China der Kapitalismus entstehen konnte.

Nach 1949 machte das Land einen "Umweg" über die Planwirtschaft, um den Prozess der "ursprünglichen Akkumulation" abzukürzen und die Industrialisierung forcieren zu können. Ein Versuch, der letztlich scheiterte und zu den Reformen von 1978/79 führte. Diese wurden zuerst in der Landwirtschaft umgesetzt. Nach einer anfänglichen Produktivitätssteigerung im Agrarbereich und der ländlichen Industrie, die der Landbevölkerung ein etwas besseres Leben bescherte, setzte eine Stagnation ein. Als Mitte der achtziger Jahre die Reformen auf die städtische Industrie ausgedehnt wurden, wurde der ländliche Raum quasi bis heute sträflich vernachlässigt. Während im kaiserlichen China die Landwirtschaft die fortschrittlichste weltweit war, ist sie heute das schwächste Glied der chinesischen Wirtschaft. Und dabei darf nicht vergessen werden, dass immer noch ca. 900 Millionen Menschen im ländlichen Raum leben und ihr Dasein fristen. An Hand der offiziellen ersten und zweiten Volkszählung (1996 und 2006) und dem Bericht über die Armut im ländlichen Raum Chinas (2004) werden die Arbeits- und Lebensbedingungen der ländlichen Bevölkerung untersucht und analysiert, u. a. die der BauernarbeiterInnen. Es wird ferner auf den Zustand der sanitären und ökologischen Verhältnisse, der Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, der Wohn- und Lebensbedingungen (Trinkwasserversorgung, Energiequellen etc.) eingegangen. Ein weiteres Kapitel setzt sich mit den Ursachen der wachsenden gesellschaftlichen Instabilität auf dem Lande auseinander und den Maßnahmen, die die einzelnen staatlichen Organe zu ihrer Befriedung ergreifen. Das Kapitel über den Primärsektor schließt mit einem Vergleich der chinesischen landwirtschaftlichen Produktion und Produktivität mit der internationalen, wobei deutlich wird, dass der chinesische Agrarsektor hoffnungslos unterproduktiv ist. Das Fazit lautet: vor dem Hintergrund des Niedergangs des modernen warenproduzierenden Systems und nicht nur, aber gerade auch bedingt durch den in allen Teilbereichen unterentwickelten ländlichen Raum sowie der strukturell bedingten Schwäche, die die Sekundär- und Tertiärbereiche partiell aufweisen, wird die VR China die USA als Weltwirtschaftsmacht nicht ablösen können.

In einem letzten - relativ kurzem - Kapitel vergleicht der Autor die US-amerikanische Militärmaschinerie mit der Entwicklung, die die Volksbefreiungsarmee (VBA) seit dem Koreakrieg durchlaufen hat. Während die USA spätestens mit Beginn des Kalten Krieges nahezu permanent und global in militärische Auseinandersetzungen verstrickt waren und dadurch sowohl ihre Waffensysteme testen sowie ihren militärisch-industriellen Komplex beständig weiter entwickeln konnten, war die VR China lediglich in fünf kriegerische Konflikte auf regionaler Ebene involviert. Erst mit Beginn der so genannten vier Modernisierungen wird die VBA allmählich von einer Massenarmee hin zu einer modernen Streitmacht umgewandelt. Dieser Prozess ist im vollen Gange und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Wenn schon die hochindustrialisierten Länder der EU, die alle drei industriellen Revolutionen durchlaufen haben, in einer konzertierten Aktion den militärischen Vorsprung der USA nicht aufholen können, dann ist die VR China noch weniger dazu in der Lage und wird somit die Vereinigten Staaten auch nicht als Supermacht ablösen können.

Folgende Rezension erschien in Asien - The German Journal on Contemporary Asia, Nr. 129/Oktober 2013


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