Jens Hinrich Riechmann

Die Evangelische Kirche Altpreußens in den
Abtretungsgebieten des Versailler Vertrags

Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des
Memellandes zwischen 1919 und 1939

Rezension


Das Memelland, das man einstmals auch "Preußisch-Sibirien" nannte, ist aus dem allgemeinen historischen Bewußtsein weitgehend verschwunden. Zwar besuchen inzwischen wieder viele Touristen Memel/Klaipeda und lassen sich vor dem Denkmal des Ännchen von Tharau fotografieren, aber wer kennt noch solch wundersame Ortsnamen wie Stankeiten, Piktaszen, Matzkieken, Baugskorallen, Koyduszen, Brusdeilinen oder Darseppeln? Selbst Wikipedia muss hier Fehlanzeige erstatten, und auch Google bliebe stumm, gäbe es da nicht die Familienforscher, in deren Auflistungen diese längst verklungenen Namen gelegentlich auftauchen. Marion Gräfin Dönhoff wußte schon 1962, wovon sie sprach, als sie ihrem viel beachteten Buch den Titel "Namen, die keiner mehr nennt" gab.

Der 140 km lange und etwa 20 km breite Landstreifen Ostpreußens nördlich der Memel existierte als einigermaßen eigenständige politische Größe, getrennt vom Deutschen Reich, eigentlich nur von 1920 bis 1923 unter französischer Völkerbund-Verwaltung, dann wurde Klaipedos kraštas von Litauen annektiert, fiel 1939 wieder in deutsche Hand, wurde im Oktober 1944 von der Roten Armee besetzt und später der Litauischen SSR angegliedert. Nach der Volkszählung von 1910 standen 68.000 deutschen 54.000 litauische sprechende Bewohner gegenüber, wobei Memel eine fast rein deutsche Bevölkerung aufwies. Die Litauer des Memellandes waren im Unterschied zu den anderen Litauern im übrigen fast durchweg evangelisch, womit sich das Memelgebiet nochmals als ein Gebiet mehrfach "verwischter Grenzen" zeigt. Welche Probleme sich aus einer solcher Konstellation ergaben (und bis heute nicht nur im östlichen Europa), deutet das amerikanische Sprichwort "Good fences make good neighbors" zumindest an.

Jens Hinrich Riechmanns, geb. 1973, materialgesättigte Hannoveraner Dissertation von 2011 stellt den Memelländischen Kirchenstreit von 1919-1925 in den Mittelpunkt, dem Arthur Hermann (zum Autor vgl. Wikipedia) bereits im Jahrbuch des Ostkirchen-Instituts Münster "Kirche im Osten", Bd. 40/41, 1997/98, S. 11-30 (der Artikel ist über Google books einsehbar) eine erste Darstellung gewidmet hat. Mittelpunkt bedeutet hier aber die breite Einbettung des historischen "Falls" in sein Umfeld. So wird zunächst die "Geschichte und politische Ausrichtung der Evangelischen Kirche der älteren preußischen Provinzen" skizziert, sodann die Situation der "ApU in den von Deutschland durch den Versailler Vertrag abgetretenen Gebieten". Es folgt das höchst instruktive Kapitel zur "(Kirchen-)Geschichte und Bevölkerung Ostpreußens", das mit dem Ordensstaat einsetzt und bis zum Ende 1945 reicht. Die besonderen Probleme zwischen "Preussisch-Litauen und Russisch-Litauen" werden ebenso nachgezeichnet wie "Das Memelland in der Zwischenkriegszeit" und die Geschichte der "Evangelischen Kirche im Memelland zwischen 1919 und 1923", bevor die detaillierte Darstellung des Memelländischen Kirchenstreits und seiner Folgen einsetzt, die rund 200 S. füllt. Das kann aber nur dem als zu ausführlich erscheinen, der nicht versteht, dass der Autor dieser "Fußnote" ostpreußischer oder gar deutscher Kirchengeschichte so viel Aufmerksamkeit schenkt, weil er in diesem Kirchenstreit im östlichsten Teil Ostpreußens exemplarische Bedeutung zumisst. Die Gemengelage von nationalen und konfessionellen Gegebenheiten, Interessen, kirchlichen und politischen, aber auch individuellen Bestrebungen mag in der Ruckschau heillos erscheinen, spiegelt aber die Unübersichtlichkeit einer Situation, in der es eben letztlich (noch) keine festen Grenzen und sichere Perspektiven gab.

Jens Hinrich Riechmann hat die in Deutschland verfügbaren Quellen unterschiedlichster Art sorgfaltig ausgewertet. Ob aus litauischen Beständen noch wichtige Erkenntnisse zusätzlich zu gewinnen sein konnten, wird Arunas Baublys, Direktor der Abteilung für Theologie an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Klaipeda, zu gegebener Zeit wissen lassen, er hat aber schon Riechmanns Dissertationsprojekt "gewissermaßen inspiriert und aus der Ferne kritisch begleitet" (S. 9). Dieses verwischt auf sehr eindrucksvolle Weise die Grenzen zwischen einer klassischen Kirchengeschichtsschreibung und aktuellen Trends in der vielfach aufgefächerten Forschung zum östlichen Europa. Riechmann scheut sich nicht vor klaren Urteilen, halt sich aber frei von aller gutgemeinten "Besserwisserei" des Nachgeborenen, die so manche historische Darstellung in der Vergangenheit belastet hat. Damit gelingt ihm eine Darstellung, die nicht nur für die Aufarbeitung der Geschichte des Memellandes Maßstäbe setzt.

Prof. Dr. Peter Maser


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