Hans-Christoph Goßmann / Joachim Liß-Walther (Hrsg.)

Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel

in der Literatur des 20. Jahrhunderts

Jerusalemer Texte, Band 6

Rezension


Entdeckungsreisen und Spurensuchen in zwei Bänden

Vor wenigen Wochen ist in der Reihe der "Jerusalemer Texte" der zweite Band von Hans-Christoph Goßmann und Joachim Liß-Walther herausgegebenen Aufsätze und Vorträge über "Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel im Spiegel der Literatur des 20. Jahrhunderts" erschienen. Der erste Band liegt bereits seit 2011 vor. Beide Bände dokumentieren Vorträge, die auf Tagungen in der Akademie Sankelmark sowie danach in Hamburg und Kiel in den Jahren 2009 und 2011 gehalten wurden. Die Autorinnen und Autoren sind - mit einer Ausnahme - evangelische Theologen, die mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und den Arbeitskreisen für den christlich-jüdischen Dialog der Nordkirche eng verbunden sind.
Der thematische Bogen der insgesamt 22 Beiträge ist weit gespannt - bekannte literarische Werke wie Thomas Manns Josephs-Tetralogie, Stefan Heyms König David Bericht oder Franz Werfels Jeremias-Roman, aber ebenso in Vergessenheit geratene wie die drei Erzählungen zu Kain und Abel von Peter und Michael Schneider und Alfred Neumann oder der Ararat-Roman von Arnold Ulitz werden analysiert und interpretiert.
Dem Charakter der an ein breites Publikum gerichteten Akademie-Tagungen entsprechend werden in den - in der Regel für die Veröffentlichung überarbeiteten und erweiterten - Vorträgen die behandelten Texte ausführlich vor- und dargestellt, eingeordnet in ihren zeitgeschichtlichen Kontext und verbunden mit biographischen Informationen, die vor allem bei den heute vergessenen Autoren sehr nachdenkenswerte literatur- und kulturgeschichtliche Einblicke gewähren. Zugleich wird dem Verlust an früher vielleicht noch selbstverständlicher Vertrautheit mit der biblischen Überlieferung dadurch Rechnung getragen, dass auch ausführliche bibelkundliche und gelegentlich exegetische Hinweise gegeben werden, die für das Verständnis der literarischen Verarbeitung hilfreich oder unerlässlich sind. Werden jüdische Autoren und ihre Werke analysiert, für die die religiöse Tradition zum Verstehenshintergrund gehört, vermitteln die Interpreten auch kenntnisreiche Einblicke in rabbinische Denkfiguren und Motive. Beispielhaft ist auf die Arbeiten von Jörgen Sontag über Elie Wiesel, Dietrich Heyde über Nelly Sachs oder Monika Schwinge über "Gott und das Leiden" in Joseph Roths Hiob-Roman zu verweisen, in denen zugleich auch die bedrückenden und bedrängenden Geschehnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Sprache gebracht werden. Nicht zuletzt dadurch empfehlen sich die beiden Bände für eine allgemein an Literatur und Theologie interessierte Leserschaft, ebenso aber als Arbeitshilfe und echte Fundgrube für Gemeindearbeit und Religionspädagogik.
Exemplarisch soll und kann hier nur auf einige der Beiträge etwas ausführlicher eingegangen werden - in der Hoffnung und mit dem Ziel, damit Lust und Neugier auf eigene Lektüre zu wecken.
In beiden Bänden finden sich spannende Aufsätze von Frauke Dettmer, der oben schon erwähnten Ausnahme. Als Slawistin und Kulturwissenschaftlerin stellt die langjährige Kuratorin und Leiterin des Jüdischen Museums Rendsburg und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für christliche-jüdische Zusammenarbeit Schleswig-Holstein im ersten Band den letzten Roman von Lion Feuchtwanger "Jefta und seine Töchter" vor. Ausführlich wird die Verarbeitung des biblischen Stoffes analysiert. Die Analyse der psychologischen Deutungen der handelnden Personen durch den Schriftsteller, die signifikanten Abweichungen des Autors vom biblischen Sujet und die von ihm selbst festgehaltenen Bezüge zur Zeitgeschichte der dreißiger Jahre und des Exils machen den Aufsatz zu einer spannenden Lektüre. Zu einer aktuellen Lektüre überdies, wenn die Autorin am Ende feststellt, dass im Subtext von Feuchtwangers Roman das bedrängende Problem des Fundamentalismus steht.
Im jetzt erschienenen zweiten Band wendet Frauke Dettmer sich "Ararat" zu, einem Roman des heute fast völlig vergessenen Arnold Ulitz. Seinerzeit galt er als einer der bedeutenden Literaten des Expressionismus, ein Sprachkünstler, der kräftige Bilder und originelle Wortneuschöpfungen liebte. In "Ararat" verarbeitet er mit Hilfe biblischer Motive aus der Sintflutgeschichte seine Erfahrungen im 1. Weltkrieg, den er als Soldat in Russland erlitten hatte. So spielen Geschehnisse der russischen Revolution und Motive östlicher Frömmigkeit im Hintergrund eine ebenso wichtige Rolle wie auch die zionistische Bewegung, die Ulitz verfremdend am Ende auf greift zu einer Utopie einer neuen Welt, in der aber nicht religiöser Eifer oder Nationalismus triumphieren, sondern Toleranz, Kosmopolitismus und Pazifismus, eine, wie Frauke Dettmer am Schluss resümiert, bis heute uneingelöste Utopie. In diesem zweiten Band ist Frauke Dettmer außerdem vertreten mit einer originellen und außergewöhnlich kenntnisreichen Deutung von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" unter dem Titel "Hiob in der großen Stadt."
Beide Herausgeber sind in den Büchern auch als Autoren kennen zu lernen. Hans-Christoph Goßmann stellt im ersten Band den bildenden Künstler Ernst Barlach als Dramatiker vor durch einen Vergleich der biblischen Sintfluterzählung mit Barlachs Drama "Die Sündflut". Im zweiten Band folgt seine Arbeit über Stefan Zweigs Legende "Rahel rechtet mit Gott", die - das ist besonders anregend - im Zusammenhang gelesen werden sollte mit dem Aufsatz von Dieter Andresen im gleichen Band über das Jeremias-Drama von Stefan Zweig. Der große deutsche Dichter wird uns in beiden Texten eindrücklich nahe gebracht, als tiefer Denker und als Repräsentant einer untergegangenen Bildungslandschaft.
Joachim Liß-Walther widmet sich im ersten Band dem heute leider kaum noch gelesenen Dichter Stefan Andres zu, ebenso wie Karin Schäfer an gleicher Stelle. Es wäre zu begrüßen, wenn beide Arbeiten neues Interesse an dem früher viel gelesenen Meister der deutschen Sprache wecken würden.
Ebenfalls im ersten Band ist Joachim Liß-Walthers Schilderung des König David Berichtes von Stefan Heym mit Gewinn und - das ist selten - großem Vergnügen zu lesen, die Geschichte dieses doppel- oder besser gesagt mehrbödigen Romans, der auf dem Hintergrund biblischer Geschichtsschreibung eine ironische Demaskierung politischer Macht- und Wahrheitsansprüche vornimmt und n.b. heutige Leser vielleicht zu einem unbefangeneren Verhältnis zu liebgewordenen oder vor gegebenen "Geschichtsbildern" anregen kann. Im zweiten Band ist vom gleichen Autor eine zeit-, theater- und kulturgeschichtlich völliges Neuland erschließende Erzählung über den "Weg der Verheißung" von Franz Werfel und Kurt Weill zu lesen, ebenso an- und aufregend zu lesen wie sein zweiter Beitrag über "Jakobs Traum", das dramatische Vorspiel zur "Historie von König David" von Richard Beer-Hofmann, ein Stück, das im Rahmen der vorjährigen Woche der Brüderlichkeit im Kieler Landeskirchenamt in Zusammenarbeit mit dem Schauspielhaus ein wenig der Vergessenheit entrissen werden konnte. Natürlich spielt das Werk von Thomas Mann eine große Rolle. Anke Wolff-Steger untersucht im ersten Band die Erzählung "Das Gesetz" und Manns Beziehungen zum biblischen Text. Anknüpfend daran ist im zweiten Band Philipp Davids Arbeit über "Joseph als ethisch-ästhetische Figur" in "Joseph und seine Brüder" sehr lesenswert, weil sie konzentriert die biographischen, religionswissenschaftlichen und literarkritischen Motive und Strukturen erhellt, die die Romantetralogie zu einem unerschöpflichen Meisterwerk gemacht haben. Sehr nachdenklich stimmt allerdings der Beitrag von Hans-Jürgen Benedict über jüdische Gestalten und Karrikaturen im Werk Thomas Manns unter dem Titel "Eine knochige Jüdin mit schwer zu bändigendem Wollhaar". Wie tief sind Klischees in der Geistesgeschichte, in der "Mitte der Gesellschaft" verwurzelt... Schließlich sei noch auf die ungewöhnliche und originelle " Biblische Besinnung zu 1. Mose 32, 23 - 30" von Klaus-Dieter Kaiser verwiesen, die über eine mögliche Beziehung dieses Bibelabschnitts zu Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" nachdenkt und jedenfalls anregt, den Reichtum und den Schatz biblischer Überlieferung unter neuer Perspektive zu entdecken - eine Anregung, die sich letztlich wie ein roter Faden durch die beiden Bücher zieht. Den Herausgebern ist für die Veröffentlichung und den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge sehr zu danken! Den beiden Bänden dieses Sammelwerks ist eine große Aufmerksamkeit zu wünschen - und vielleicht eine Fortsetzung in einem dritten Band, der einer Leserschaft dann auch literarische Werke aus dem nichtdeutschen Sprachraum nahebringen könnte!

CHRISTOPH EHRICHT


Copyright © 2011 by Verlag Traugott Bautz