Erika Hickel

Die Arzneimittel in der Geschichte

Trost und Täuschung - Heil und Handelsware

Rezension


Erika Hickel: Die Arzneimittel in der Geschichte. Trost und Täuschung - Heil und Handelsware. Edition Lewicki-Büttner, Band 4. Nordhausen 2008, Verlag Traugott Bautz, 631 Seiten, 140 Euro "Dieses Buch macht zum ersten Mal den Versuch, den Arzneimittelgebrauch in der Menschheitsgeschichte kultur- und epocheübergreifend darzustellen, soweit er historisch erforscht ist". Ob dieser dem Klappentext des Buches entnommene Anspruch erfüllt wird, kann hier nicht beurteilt werden. Dass die ehemalige Leiterin der Abteilung für Geschichte der Pharmazie und der Naturwissenschaften der Universität Braunschweig jedoch eine ganz herausragende historische Übersicht vorgelegt hat, wird nach der Lektüre sicherlich kaum jemand bestreiten.

Beschrieben werden Arzneimittel in den frühen Hochkulturen Asiens und Afrikas, die Zeit zwischen Hippokrates und Galen (5. Jhd. n. Chr.), im Mittelalter - z. B. vertreten durch die Klostermedizin -, während der Seuchenzüge und Entdeckungsreisen und in der Zeit der Chemiatrie bis ca. 1670. Eindrucksvoll und sicherlich für viele Apothekerinnen und Apotheker besonders interessant sind die Ausführungen über die Zeit über die neuere Geschichte bis 1980 mit den Wechselwirkungen zwischen der Herstellung von Arzneimitteln und der naturwissenschaftlichen Forschung. Beide Bereiche beeinflussten sich gegenseitig, wobei gerade Apotheker eine große Bedeutung spielten.

Ein Schwerpunkt von Hickels Buch ist die Darstellung, wie sich seit dem 19. Jhd. ein Fortschrittsglauben an die Heilkraft vor allem der naturwissenschaftlich fundierten Arzneimittel entwickelt hat. Dabei zeigt Hickel auch die wellenförmigen Bewegungen zwischen holistischen Vorstellungen auf der einen und reduktionistischen auf der anderen Seite.

Viele Leserinnen und Leser wird besonders die Zeit seit Beginn der industriellen Herstellung von Arzneimitteln ab ca. Mitte des 19. Jahrhunderts interessieren. Gut ein Viertel des Buches widmet die Pharmaziehistorikerin diesem Zeitabschnitt.

Besonderes Merkmal Hickels Buch im Vergleich zu vielen anderen pharmazie- und naturwissenschaftshistorischen Arbeiten über Arzneimittel ist: Hickel weist auf die Probleme bei der Auffindung, Herstellung und Anwendung von Arzneimitteln hin, legt also oftmals den Finger in die Wunden derjenigen, die in der Entwicklung des Arzneimittels bis zu ihrer heutigen Bedeutung oftmals eine lupenreine Erfolgsgeschichte sehen wollen. Es ist wohl ein wesentliches Ziel der Autorin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Arzneimittel Teil des jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes sind. So zeigt sie anhand von Beispielen, wie sehr archaische oder aufklärerische Vorstellungen, "soziomorphe" Ideen oder soziokulturelle Voraussetzungen, militärische Überlegungen oder Strukturen der "industrialisierten Forschung" (nach Jerome R. Ravetz 1971) auf den Umgang mit Stoffen, Pflanzen, Tieren und Menschen einwirkten und die Bedeutung der Arzneimittel für die Menschen und Therapeuten bestimmten. Hickel weist in verschiedenen Epochen nach, in welchem Spannungsfeld Arzneimittel als "besondere Ware" genutzt wurden und werden, z.B. zwischen "Trost und Täuschung - zwischen Heil und Handelsware" - so auch der Untertitel des Buches. Arzneimittel wurden bspw. bis tief ins 19. Jahrhundert nicht "verbraucht", sondern in "Notfällen als Gottesgabe angesehen". Insofern wäre es ein Anachronismus, die damals vorhandenen Pharmakopöen als ein Instrument des Verbraucherschutzes zu betrachten.

Nicht nur für die rein schulmedizinischen Medikamente gilt die Problemorientierung der Autorin, sondern auch für die der komplementären Medizin. Sie benennt die oftmals allzu unkritische Zuwendung vieler Esoteriker zu ethnischen Arzneimitteln bspw. der traditionellen chinesischen oder der ayurvedischen Medizin und stellt infrage, ob die Anhänger dieser Richtungen die Einbettung der Therapien und der hierbei genutzten Mittel in die jeweilige Kultur- und Heilsvorstellungen ihrer Zeit ausreichend verstanden haben. Heutige Ethnoarzneimittel-Liebhaber würden oft den Geist und die Seele unberücksichtigt lassen, die in ihrer jeweiligen Epoche den Arzneimitteln zugesprochen wurden. Sie selbst zeigt dabei großen Respekt vor anderen Therapierichtungen und will kein abschließendes Urteil vor dem Hintergrund der wenigen, historisch gesicherten Quellen geben.

Überhaupt lässt sich die Autorin nicht in die Schublade der einen oder anderen Richtung einordnen. Bei aller Kritik an Heilsversprechen der Schulmedizin und verkürzter Betrachtungsweise komplementärer Arzneimittel spricht sie sich auch gegen die Einführung von Positiv- und Negativlisten aus, die schon deswegen wenig hilfreich sein könnten, weil sie schon nach ihrer Fertigstellung veraltet sein müssten. Auch beim DDR-Arzneimittelmarkt weist sie auf die Ambivalenz hin: "Die deutlichen Vorteile, die das Arzneimittelrecht in der DDR vom Standpunkt einer geordneten Arzneiversorgung aus bot, sind nach der politischen Wende von 1989 vollständig preisgegeben worden. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR kamen diese Vorteile in den Augen des Publikums auch nie voll zum Tragen, wie die verbreitete Sitte, "West-Arzneimittel" mehr oder weniger legal zu besorgen, belegt".

Deutlich wird bei der Lektüre des Buches, dass Hickel dem heute in der Arzneimittelforschung und -anwendung oftmals vorherrschenden eindimensionalen naturwissenschaftlichen Ansatz entgegentritt und stattdessen für einen Wissenschaftspluralismus streitet. Denn die mit offen ausgetragenen Diskussionen über Methodiken und Ideen verbundene Sensibilität für andere Forschungstraditionen zum Verständnis von Naturphänomenen gelte es zu erhalten. Die vor allem in Deutschland gefundene Regelung zur Zulassung von Arzneimitteln der komplementären Medizin wird von ihr daher auch lobend erwähnt.

Das Konzept der schulmedizinischen Arzneimittel analysiert die Pharmazie- und Naturwissenschaftshistorikerin besonders kritisch, nicht nur hinsichtlich ihrer historischen Wurzeln. Sie sieht einen bedauernswerten Mangel an Untersuchungen über die Struktur des Arzneimittelmarktes und deren Auswirkungen auf die Patienten. Es fehlten Zahlen über die Gewinne der Unternehmen im Verhältnis zum volkswirtschaftlichen Nutzen und zum Nutzen der Gesundheit der Bevölkerung insgesamt. Auch gebe es keine Kostenberechnungen über die Schäden, die durch Arzneimittel angerichtet worden seien (iatrogene Schäden und Sucht- und Missbrauchsschäden, auch durch Diktatur und Krieg). "Diese Einsicht sollte uns davor bewahren, einen ‚Fortschritt' in der Arzneimittelversorgung zu diagnostizieren, über dessen Bewertung noch lange nicht das letzte Wort gesprochen werden kann", so ihr Fazit zu diesem Thema.

Wie vorsichtig sie bei ihrer Darstellung vorgeht, um den Rahmen der wissenschaftlichen Betrachtung nicht zu verlassen, zeigt der an manchen Stellen angedeutete Hinweis, dass nach 1980 möglicherweise eine neue Epoche der Arzneimittelgeschichte angebrochen ist, die sie als Zeitzeugin nicht beurteilen mag. Man wünschte sich hier vielleicht doch den ein oder anderen Hinweis von der Autorin, vor allem vor dem Hintergrund, dass sie von 1983 bis 1985 für die Partei DIE GRÜNEN im Bundestag die Entwicklung gentechnologisch erzeugter Arzneimittel politisch ganz nah begleiten konnte und sicherlich wesentlich zur kritischen Haltung der Gesellschaft gegenüber heutigen pharmakogenetischen Heilsversprechen beitrug.

Mit der Darstellung des Ergebnisses "vierzigjähriger akademischer Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Arzneimittelgeschichte und zehnjähriger Diskussionen in der politischen Ökologiebewegung" ist der Apothekerin Erika Hickel eine "Quintessenz" aus ihrer Arbeit gelungen, die in der "Scientific Community" Beachtung finden muss. Der Blick in das Literaturverzeichnis zeigt die ganze Bandbreite der verarbeiteten Forschung auf diesem Gebiet. Insofern ist das Buch ein Muss für alle Historiker vom Fach, allen zu empfehlen, die der Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte als vermutete altbackene Disziplin bisher wenig abgewinnen konnten und für viele ein Gewinn, die bei aller Esoterik noch die Offenheit haben, wissenschaftshistorische Erkenntnisse über von ihnen genutzte Arzneimittel aufzunehmen.

Udo Puteanus


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