Seit dem 16. Jahrhundert gehörte die Versorgung der Findelkinder in Bern zu den Aufgaben der reformierten Obrigkeit. Erst 1744 wurde ein eigenes Amt, jenes des Fündelischaffners, geschaffen. Dieser führte gewissenhaft Buch über die Findelkinder, die Umstände ihres Auffindens, die getroffenen Maßnahmen und ihr weiteres Schicksal. Um die 200 Findelkinder wurden zwischen 1744 und 1786, als die Verantwortung für die Kinder an die Landsassenkammer überging, erfasst. Die meisten Kinder wurden in der Stadt Bern oder der näheren Umgebung ausgesetzt; die Mutter oder der Vater wollten wohl sicher gehen, dass das Kind rasch in die Obhut der Obrigkeit gelangte.
Da die Obrigkeit jeweils nach der Mutter fahnden ließ und auch in einigen Fällen die Mutter entdecken konnte, ist es möglich, aus den Gerichtsakten die Beweggründe für eine Aussetzung zu fassen. Angst vor der Verurteilung nach einer unehelichen Geburt und der sozialen Ächtung, aber auch bittere Armut und ausweglose Lebenssituationen konnten den Ausschlag geben. Auch wird angetönt, dass die Versorgung der Findelkinder durch die städtischen Behörden eine bessere war als jene durch die Heimatgemeinden.
Die Kinder wurden auf dem Land verdingt; sie sollten in die untere ländliche Gesellschaft integriert werden und später als Knechte oder Mägde ihr Leben selber bestreiten können. Nur in Ausnahmefällen wurde eine Lehre als Handwerker gestattet, dann nämlich, wenn ein Kind körperlich geschwächt und damit zur Landarbeit ungeeignet war. Der Fündelischaffner führte die Aufsicht über das Wohl der Kinder, ließ sie auch medizinisch versorgen und mit dem nötigen Schulmaterial ausrüsten.
Die Autorin hat es vorzüglich verstanden, quantitative und qualitative Analyse zu verbinden, ohne die oft schwierige und bruchstückhafte Quellenlage überzustrapazieren. Dabei entsteht eine differenzierte Sicht auf die obrigkeitliche Politik, die einen rigiden Moralkodex mit repressiven Mitteln durchsetzen wollte, aber auch in christlichpaternalistischer Verantwortung handelte. Auch das wenige, das wir über die Eltern wissen, ergibt einen vielschichtigen Einblick in die prekäre Situation der Frauen, die ein Kind nicht aufziehen konnten, nicht nur bei unehelichen Geburten, sondern manchmal auch in schwierigen Ehesituationen. Die systematische - notwendigerweise unvollständige - Rekonstruktion der Lebensläufe der Findelkinder gibt uns ein faszinierendes und erschütterndes Bild des Lebens am untersten Rand der Gesellschaft.
Die Autorin stellt die bernische Debatte in den Zusammenhang des europäischen Diskurses, in dem - auf dem Hintergrund einer steten Zunahme der Kindsaussetzungen - die Fragen nach Findelhäusern, Repression und Prävention lebhaft und kontrovers diskutiert wurden.
Die Arbeit zeigt eindrücklich, wie eine sorgfältige lokale Analyse zu wichtigen Einsichten der Gesellschaftsgeschichte in ihrer ganzen Vielfalt führen kann, besonders auf einem Gebiet, in dem zu oft mit Generalisierungen und Pauschalurteilen operiert wird.
Francois de Capitani
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