Wie werden "normale" Männer zu Massenmördern und wie wird Massenmord zur Alltagsroutine?
Ob in Omer Bartovs Beitrag zur Debatte um die Rolle der Wehrmacht im
Zweiten Weltkrieg1 oder Christopher Brownings Studie zur Beteiligung des Polizeibataillons
110 an der Endlösung die eingangs gestellten Fragen bilden weiterhin den Nukleus
der Täterforschung zum Nationalsozialismus. Die an der Universität Bern vorgelegte Lizentiatsarbeit von Regula Zürcher ist der Versuch,
eine Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Personals der Massenvernichtungsanlagen
von Auschwitz zu schreiben. Dabei konzentriert sich Zürcher auf die sog. "Grauzone"
(S. 17) innerhalb der sozialen Struktur des Konzentrationslagers, ein von Primo Levi gepr
ägter Begriff für das Verhältnis von SS-Angehörigen und jüdischen Sonderkommandos,
das sich durch die Pole Machtdelegation und Kollaboration, Protektion und Korruption
kennzeichnen lässt. Absicht der Autorin war es, "je eine Art Gruppenportrait" (S. 29)
beider Untersuchungsgruppen, der Täter und Opfer, zu schreiben, die gemeinsam das Personal
der Massenvernichtungsanlagen stellten. Der erste Teil des Buches bietet neben methodischen Überlegungen eine knappe Übersicht
zum Forschungsstand, die an mancher Stelle zu einer etwas oberflächlichen Darstellung
neigt. Zudem werden Forschungsrichtungen und Thesen skizziert, ohne wenigstens
exemplarische Einzeltitel zu benennen. Im Folgenden beschreibt Regula Zürcher überblicksartig die Organisation der Vernichtung:
die ideologischen Grundvoraussetzungen der .Endlösung., die Einrichtung des Lagers
Auschwitz, die Lagerorganisation und Personalstruktur.5 Eine prägnante und eindrucksvolle
Schilderung der Arbeitsteilung in der .Vernichtungsfabrik. Auschwitz gelingt
ihr im dritten Abschnitt, in dem sie chronologisch den .Arbeitsschritten. nach der Ankunft
der Deportationszüge folgt. Die Selektion an der Rampe, der Entkleidungsraum, die Abl
äufe von Vergasung und Erschießungen sowie die anschließende Verwertung von Goldz
ähnen und Haaren werden so nüchtern und genau als möglich beschrieben. Dennoch
fehlt es manchmal an weiter führenden Verweisen, an Hinweisen zur Literatur oder den
Biografien der beteiligten Personen, wie den an der Rampe tätigen Medizinern.6
Im vierten und fünften Abschnitt der Studie befasst sich die Autorin mit dem Alltag
der jüdischen Sonderkommandos bzw. der SS-Angehörigen. Beide Gruppen verfügten,
in unterschiedlichem Ausmaß, über Freizeit zur Regeneration vom Mordalltag. Für die
jüdischen Sonderkommando-Häftlinge habe die Tätigkeit bei den Krematorien "trotz der
"geregelten Arbeit" und den "im Vergleich mit den anderen Auschwitz-Häftlingen" komfortablen
Lebensbedingungen ein Leben in der Extremsituation" bedeutet (S. 122), ein
moralisches Dilemma: "Fälle von versuchten und geglückten Suiziden finden sich in fast
allen Quellen, und viele Häftlinge schienen gelegentlich ernsthaft den Gedanken gehegt
zu haben, ihr Leben zu beenden. Trotzdem blieb die Zahl der Selbsttötungen erstaunlich
niedrig" (S. 182). Der Versuch der Autorin, sich auf jeweils rund zehn Seiten der "Mentalität" der
Sonderkommandohäftlinge bzw. der SS-Angehörigen zu nähern, bleibt in Pauschalurteilen,
teils im Banalen, stecken, vielleicht weil die Aussagen überwiegend auf Erinnerungsliteratur
fußen und nicht quantifiziert werden können.
Copyright © 2006 by Verlag Traugott Bautz
Neue Studien zur Holocaust-Forschung