Seit Neu Waldens und Lothar Schreyers "Erinnerungsbuch" von 1954 die wichtigste expressionistische Kunst- und Literaturzeitschrift Der Sturm (1910-1932) und ihren Begründer Herwarth Walden wieder einem allgemeinen Überlieferungsbewußtsein im Kontext der "klassischen" Moderne zurückzugewinnen versucht hatte, haben sich in unterschiedlicher Form eine Reihe von Arbeiten mehr oder minder ambitioniert mit der Erschließung der historischen Leistung von Herausgeber und Beiträgern im Rahmen dieses Organs beschäftigt. Der Ansatz schwankt dabei zwischen Überblicksdarstellungen und Detailstudien zum Herausgeber sowie einzelnen Autoren und Künstlern. Die große Datenfülle, die sich sowohl aus der Zeitschrift selbst als auch aus vorhandenem Archiv- und weiterem persönlichem Erinnerungsmaterial ergeben, begünstigt entweder einen ausgesprochen additiven oder aber einen strikt selektiven Zugriff. Beide Möglichkeiten haben ihre pragmatische, wenn deshalb auch nicht unbedingt methodische Berechtigung.
Schon die sachliche Datenerschließung einer Zeitschrift dieses Jahrgangsumfangs ist schwer genug, will man aber allgemeine schreibdispositionelle Tendenzen und Leistungen sowie ihre autorenspezifischen Hintergründe erfassen, so türmen sich beträchtliche Probleme auf. Sie zu meistern, hat sich nach ersten amerikanischen Vorarbeiten sehr unterschiedlicher Qualität in den Siebziger Jahren und der großen, opulent ausgestatteten Monographie von G. Brühl aus dem Jahr 1983 die hier zu besprechende Hamburger Dissertation Volker Pirsichs von 1984 unter der Totalität beanspruchenden Frage, was der Sturm sei (S. 13), vorgenommen.
Pirsich will wirklich eine umfassende Bestandsaufnahme. Er versucht mit akribischer Recherchierungsarbeit wie mit analytisch breitem Zugriff eine "historisch möglichst einwandfreie Aufarbeitung der Geschichte der Zeitschrift Der Sturm, des sich um sie scharenden Künstlerkreises und der sich aus diesem Kreis entwickelnden künstlerischen und kulturpolitischen Aktivitäten." (S. 20) Der Aufwand, der hierzu getrieben wird, ist auf den ersten Blick schon rein umfangmäßig beträchtlich, wenn sich bei näherem Hinsehen dann auch zuweilen Zweifel einstellen, ob alles Vorgetragene wirklich auch sachlich notwendig ist. Ein überquellender Zettelkasten hat erkennbar seine Spuren hinterlassen, den in eine klar konturierte Darstellung zu überführen, schwierig war. Wo das archivalische und publizistische Substrat nicht mehr nur sachlich behandelt wird und analytische Passagen einsetzen, erweist sich rasch, daß es im Hinblick auf eine methodische und literaturtheoretische Fundierung Defizite gibt, sobald positivistische Positionen überschritten werden.
Unproblematisch ist es, die publizistische Geschichte des Sturm darzustellen, da es hier um das Referieren von Daten und Materialien geht. Schwieriger wird es schon, das Profil eines sogenannten Sturm-Kreises zu bestimmen, verschwimmen doch hier die Abgrenzungen. Erkennbar genügt es nicht, nur von der Beiträgerschaft an der Zeitschrift bzw. dem sonstigen, kulturaktiven Betätigungsfeld summierend auszugehen, sondern Art und Qualität der Mitarbeit wären differenziert zu erörtern, persönliche wie sachliche Nähe oder Ferne der Kontakte untereinander gälte es abzuwägen. Hierzu bräuchte es kulturgesellschaftliche Beschreibungsmodelle, um ein ebenso komplexes wie diffuses Interaktionssystem, wie es der in seiner Zusammensetzung fluktuierende Kreis um den Herausgeber Walden darstellt, entsprechend erfassen zu können.
Der Verf. gibt sich mit diesen grundsätzlichen Fragen nicht ab. Er folgt konventionellen literaturhistorischen Schemata, die personen- und textbezogen Ergebnisse im Zugriffsmodus einer phasenweise strukturierten Entwicklungsgeschichte formulieren, wobei bei der Darstellung der kunsttheoretischen Positionen relativ unreflektiert den artikulierten Vorgaben der beteiligten Autoren und Künstler gefolgt wird. Dies Verfahren ist wissenschaftspraktisch zwar eingeführt, hat aber trotzdem seine Schwächen. Hier bleibt deshalb weiterer Forschung auf der Basis des Vorgelegten noch reichlich Betätigungsraum offen.
Nach einleitendem Forschungsbericht zur wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Rezeptionsgeschichte (Kap. 1) stellt Pirsich Herwarth Waldens kunst- und kulturpolitische Aktivitäten bis zur Gründung des Sturm dar, wobei (wie auch sonst in der Arbeit) die quellenmäßige Herkunft genannter Daten und Sachverhalte leider nicht immer und konsequent im Detail, sondern nur in spezifischen Einzelfällen nachgewiesen wird. Der Benutzer der Arbeit bleibt so wieder auf die eigene Auswertung der allerdings in einem ausführlichen bibliographischen Anhang (S. 691ff.) aufgeführten Quellen angewiesen. Die Vorstellung Waldens bleibt dabei, was seine Persönlichkeit angeht, lückenhaft. Es ist dem Verf. keiner genaueren Erörterung wert, die biographischen Dispositionen Waldens, aus denen ja die Impulse seiner kulturellen Aktivitäten mit abzuleiten sind, zu rekonstruieren. Erstaunlicherweise bleibt so die Person Walden (wie im übrigen auch die anderer Angehöriger des Sturm-Kreises) in einer ansonsten ausgreifenden Arbeit darstellerisch marginal.
Die weitere Gliederung der Arbeit folgt den Wirkungsfeldern der Zeitschrift: Kunsttheorie in Malerei und Dichtung (Kap. 5), Institutionen und Organisationen des Sturm (Kap. 6), Theater (Kap.7), Sturm und die Tradition der bildnerischen Moderne (Kap. 8) und schließlich eher angehängt das Verhältnis zu den Medien Presse und Film (Kap. 9). Je nach Gegenstand sind Anlage und vor allem Umfang der Kapitel (zwischen 25 und 240 Seiten) stark abweichend. Dem äußerlichen Unterschied entsprechen aber auch sachlich und analytisch differente Ausarbeitungsgrade, die zwischen reiner Faktendarbietung und Versuchen einer vertiefteren Behandlung schwanken. Präferenzen des Verf. sind zwar erkennbar, doch genügen sie nicht für eine stringente Orientierung der Arbeit, die letztlich für den Leser akkumulativ wirkt.
Die Problematik der Arbeit erweist sich vor allem dort, wo es um kunsttheoretische Fragen geht, die komplexe Diskussionsfelder, Werke und nicht zuletzt auch Künstler bzw. Dichter betreffen. Wenn in einem fast 250 Seiten umfassenden Kapitel die Kunsttheorie des Sturm abgehandelt wird, so macht das rein umfangmäßig zwar schon eine eigene Dissertation aus, im Gesamtkontext wirkt es aber dennoch mehr aufzählend als das Sujet durchdringend. Dies hängt damit zusammen, daß die Vorstellung der Positionen aus der Binnensicht des Themas erfolgt und somit der weitere Zusammenhang mit der übrigen Moderne allenfalls pauschalisierend anklingt. Als Präsentation der im Sturm vorgetragenen Diskurse allein überzeugt, auch wenn die dort rezipierten Richtungen z.T. europäische Avantgarde einbeziehen, die Behandlung nicht mehr voll, da die analytische, kontrastgebende Tiefe nicht gewährleistet ist. Das siebte Kapitel, das von den Beziehungen zwischen Sturm und der internationalen Avantgarde handelt, gehört zum Schwächsten, was die Arbeit bietet. Mehr als Auflistungen finden da nicht statt. Nicht vom Sturm-Kreis akzeptierte, konkurrierende Kunsttendenzen und deren Vertreter treten so auch nicht oder nur marginalisiert in den Deutungshorizont der ansonsten stark wertenden Arbeit ein, was den Ertrag dann doch merkbar mindert.
Aber auch in den angesprochenen Theoriedebatten zeigen sich Unschärfen durch den Überblicksansatz, selbst wenn darin Detailaspekte immer wieder einmal eingestreut sind. Dies fällt weniger im dichtungstheoretischen Bereich auf, bei dem der Verf. sich auskennt, als im kunsttheoretischen, wo bei der fachwissenschaftlichen Kompetenz Abstriche zu machen sind. Die Bewertungen sind hier weitgehend aus zweiter Hand und fallen hinter kunstwissenschaftlich längst Erreichtes zurück. Die erstrebte Interdisziplinarität bringt hier wenig voran. Aber auch bei der Erörterung dichtungstheoretischer Positionen (etwa der Wirkung des Futurismus auf Döblin und Stramm) wird viel referiert und reproduziert, um dann doch keineswegs voll überzeugende Neubewertungen trotz der ausholenden Ansprüche vorlegen zu können. So sind die Ausführungen zu Döblin kaum von wirklicher Vertrautheit mit dem Werk des Autors gekennzeichnet, so daß es zu Fehleinschätzungen kommt, die zwar angesichts der Gesamtmasse des in der Arbeit zu Bewältigenden nicht verwunderlich, aber eben doch im konkreten Fall ärgerlich sind.
Man kann für diese Situation der Studie Verständnis haben, da sie mit dem umfassenden Anspruch des Themas zu tun hat. Es ist eben nicht möglich, sich bei der bewegten Fülle im Sturm vertretener Autoren, Künstler und Werke überall auszukennen. Nur wem nützt dann die Arbeit? Für Literatur- und Kunstwissenschaft springt durch die Untersuchung bei genuinen Arbeiten zum Expressionismus und verwandten, europäischen Avantgardeströmungen wenig heraus, und als Grundlage für dem Sturm-Kreis zugehörige Autoren genommen, wirkt die Darstellung affirmativ, weil die kritische und in Umfelder einordnende Wertung zu berichtsmäßig ausfällt. Was Pirsich zu Stramm etwa zu sagen hat (S. 217ff.), besagt für das Verständnis von dessen Werk wenig. Wir erfahren allenfalls etwas zum Rezeptionsbild dieses Autors im Sturm. Textanalytisch fällt für Stramms Dichtungen nichts substantiell Neues ab. Und so verhält es sich im Grunde auch bei anderen Autoren und Künstlern. Selbst dem Theater-Kapitel, das noch am ehesten Aufschlußreiches und Undargestelltes beinhaltet, haftet ein referierendes Oberflächenmoment an, bei dem viele Aspekte mehr angerissen als wirklich voll im Prozeß der "Moderne" ausgeleuchtet werden. Das innovative Selbstverständnis der Arbeit reduziert sich so auf eine Materialvermittlung, die man gerade auch dann dankbar benutzen wird, wenn sie in die Literatur eingeschlichene Fehler berichtigt, zu der man aber weniger überzeugt greifen wird, um sich mit Kunst- und Literaturwerken sowie zugehörigen Theoriedebatten analytisch auseinanderzusetzen.
Als im übrigen gut (auch mit Bildmaterial) ausgestattete Untersuchung einer wichtigen Zeitschrift des 20. Jahrhunderts ersetzt oder überflügelt die Arbeit das Buch Georg Brühls nicht, der sogar für die bibliographische Erschließung des Sturm weitaus handhabbarer ist, aber auch substantiell in der inhaltlichen Aufbereitung trotz oder gerade wegen einer viel konziseren Darstellung ergiebiger wirkt. Pirsichs Unterfangen will viel und überzeugt mit seinem Anspruch letztlich nicht. Dennoch ist die Arbeit nützlich und sinnvoll, weil sie doch viel zugänglich macht und so verdeutlicht, welches Potential immer noch im Sturm schlummert, dem auch mit immensem Aufwand nur bedingt beizukommen ist und das noch weiterer Ausschöpfungen bedarf.
Was den Reiz seiner schon im Vorfeld des großen Buches publizierten Studie über den Sturm und seine Beziehungen zu Hamburg und zu Hamburger Künstlern ausmacht, nämlich ein lokales Bezugsterrain sachlich und auch editorisch zu erschließen, so daß Hamburg als (kleiner) "expressionistischer" Wirkungsraum historisch zumindest aus spezieller Sicht erkennbar wird, dies gelingt dem großen Buch nicht, obwohl "Der Sturm und Berlin" (als Wechselbeziehung verstanden) zweifellos eine auch rezeptionsmethodisch spannende und noch zu schreibende Arbeit sein könnte. Für Hamburg liefert Pirsich auch keine wirklich analytische Untersuchung, sondern teilt mehr Biographien, Bildmaterial und Texte mit, doch erfüllt dies ein Nachschlag - und Informationsbedürfnis in anregender und sinnvoller Weise.
Erich Kleinschmidt (München)
Copyright © 2003 by Verlag Traugott Bautz